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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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bitten muss.
    Der Portier in der braun-goldenen Livree hinter der riesigen Marmortheke weicht wie angewidert vor uns zurück. Ryan sieht auch ziemlich abgerissen aus, das muss ich zugeben: Seine Haare sind schmutzig und verfilzt und er braucht dringend eine Rasur. Der Portier hat inzwischen Gia Basso erkannt, sagt eisig „Signorina“, und seine hellgrauen Augen huschen von Ryan zu mir, ehe er sich zu einem halben Lächeln und einem kaum wahrnehmbaren Nicken herablässt.
    Als sich die Tür des Aufzugs öffnet, kramt Gia eine Chipkarte aus der Tasche ihrer hautengen, gewachsten schwarzen Jeans hervor, schiebt sie in einen Schlitz an der Schalttafel und tippt eine Nummer ein.
    Der verspiegelte Metalllift reflektiert uns von allen Seiten, sodass sich unsere Spiegelbilder quasi ins Unendliche fortsetzen. Ryans Kopf liegt schlaff an meiner Schulter und am Saum seines rechten Jackenärmels klafft ein langer Riss, der wahrscheinlich von mir stammt. Gia rümpft die Nase, weil Ryan offenbar dringend eine Dusche braucht.
    „Du lieber Himmel“, murmelt sie und schaut mich über Ryan hinweg an. Sie kann kaum ihre ungewöhnlichen Augen – ein blaues und ein braunes – von mir abwenden. „Dass ihr noch lebt! Als diese leuchtenden Riesengestalten mit den langen Schwertern und … ähm … Flügeln aufgetaucht sind“, fährt sie fort und wirft mir einen schnellen, tausendfach gespiegelten Blick zu, „hat mir irgendein Blödmann ins Gesicht geschlagen, und dann ging die ganze Galleria in Flammen auf. Ich bin sofort abgehauen, muss ich gestehen. Ich hab weder nach links noch nach rechts geschaut, sondern bin einfach zum nächsten Ausgang gerannt. Aber ich bin froh, dass du’s geschafft hast. Und du siehst …“ Sie zögert einen Augenblick, dann fährt sie fort: „Du siehst gut aus. Ähm, anders. Aber gut.“
    Seltsam, dass sie mich erkennt, obwohl ich in meiner jetzigen Gestalt fast keinerlei Ähnlichkeit mit Irina habe. Aber sie zweifelt keine Sekunde, dass ich es bin.
    „Du auch“, erwidere ich und empfinde plötzlich eine überwältigende Dankbarkeit und Zuneigung für dieses stachlige Geschöpf. „Cool“, sage ich und deute auf ihre eng anliegende, glänzende Bikerjacke mit den unzähligen Schulterspikes, Schnallen und Steppnähten, denn ich weiß, wie viel ihr das bedeutet. „Genau dein Stil.“
    Mit einem schiefen Haifischgrinsen hebt sie einen ihrer schwarzen Keilabsatz-Ankleboots hoch. Auch der Stiefel strotzt vor kurzen, spitzen Metallspikes auf den Kappen und an den Fersen. „Die Jacke, die ich gestern anhatte, war total versaut. Stinkt bestialisch – wie ein Holzkohlegrill. Ehrlich, mir ist fast schlecht geworden. Und irgendwie konnte ich heute eine Rüstung gut gebrauchen. Ich hab den ganzen Morgen Tritte ausgeteilt, bildlich gesprochen, seit mein Telefon um Viertel nach drei zum ersten Mal geklingelt hat. Verstehst du, notfalls kann ich die Leute mit meinen spitzen Schuhen aufspießen, wenn sie gerade nicht hingucken.“
    Wir grinsen uns einen Augenblick an, dann verlagert Ryan sein Gewicht und schmiegt seinen Kopf an meine Wange. Und mit einem Mal wird mir bewusst, wie wenig Zeit uns noch bleibt und wie sehr ich das alles vermissen werde – Freundschaft, menschliche Wärme, Liebe. Kleine Dinge nur.
    „Zu kompliziert“, murmelt Ryan plötzlich. Er richtet seinen Blick benommen auf Gia, und irgendwie scheint sie sich über seinen Kommentar zu freuen.
    „Er sieht genauso aus, wie ich mich fühle“, stellt sie beinahe freundlich fest. „Beschissen.“
    „Ach, eigentlich hält er sich ganz gut, nachdem ich ihn heute schon zweimal fast umgebracht habe“, erwidere ich leise.
    Gias Gesicht wird ernst. „Ja, gut, aber ihr seid bestimmt nicht vorbeigekommen, um mein Outfit zu bewundern“, sagt sie in ihrem scharf akzentuierten britischen Englisch.
    Ich schüttle den Kopf und zeige auf Ryan. „Er braucht Essen, Schlaf, das Übliche.“
    „Was ein Mensch eben so braucht“, kontert Gia trocken. „Und du? Was brauchst du?“
    „Hilfe“, sage ich wie aus der Pistole geschossen, und ihre dunklen Augenbrauen schießen ungläubig in die Höhe, sodass sie fast unter dem glänzenden Pony verschwinden.
    Die Aufzugtür gleitet wieder auf, und wir gehen unter denselben Muranoglas-Lüstern hindurch, über denselben kunstvoll gemusterten Teppich in Königsblau und Gold, den ich gestern als Irina vor meinem Walk auf dem Laufsteg überquert habe. Ein ziemlich verwirrendes Gefühl, auf diese Weise

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