Mercy, Band 4: Befreit
zurückzukehren, obwohl ich mich doch in jeder Hinsicht radikal verändert habe.
Ich fange ein Echo meiner widersprüchlichen Gefühle von Gia auf, aber ihre Gedanken sind unklar und schwer zu lesen, als hätte sie gelernt, mit verdeckten Karten zu spielen, selbst gegenüber einem Wesen wie mir. Gia ist wie ein Panzerschrank. Geheimnisse sind bei ihr gut aufgehoben.
Mit einem dezenten Räuspern holt sie mich in die Wirklichkeit zurück. „Irina ist noch nicht zu sich gekommen, seit du … weg bist“, erzählt sie. „Schläft, als wäre sie Dornröschen höchstpersönlich. Obwohl sie nichts abgekriegt hat, nicht den kleinsten Kratzer. Ihre Vitalfunktionen sind gut, sie braucht keine künstliche Beatmung. Aber sie liegt da wie tot. Als wäre sie nur noch eine leere Hülle. Null Reaktion auf äußere Reize. Wir streiten uns noch, ob wir sie verlegen lassen oder abwarten sollen. Aber die Ärzte sagen, wenn sie noch länger im Wachkoma bleibt, dann …“
„… stirbt sie“, beende ich ihren Satz.
„Dann weißt du also, was mit ihr los ist“, erwidert Gia. „Darauf hab ich ehrlich gesagt gehofft.“
„Ich hab so meine Theorien“, sage ich grimmig.
„Ich will hier weg“, bricht es plötzlich aus Gia heraus. „Weg aus dieser Stadt, weg von Irina, von diesem ganzen verdammten Business. Aber das kann ich nicht, solange sie in ihren Körper eingesperrt ist wie Schneewittchen, nachdem es in den vergifteten Apfel gebissen hat. Irina ist ein Biest, okay, die Königin aller Bitches, aber im Augenblick hat sie nur mich. Hat zu viele Brücken hinter sich abgerissen, das Herzchen. Jetzt schau mich nicht so an!“
„Wieso?“, sage ich mit unbewegter Miene. „Wie schau ich denn? Hast du Angst, dass ich dich verachte, weil du ein Herz hast? Ich doch nicht!“
Gia stemmt verlegen Ryans schlaffen Arm hoch, während sie ihre Chipkarte in den Messingschlitz neben der Tür steckt. „Ach, hör auf. Ist doch selbstverständlich, dass ich das mache. Du warst schließlich ein guter Boss, besser als alles, was ich vor dir hatte.“ Sie wirft mir ein schiefes Lächeln zu. „Und als Gegenleistung verlange ich nur, dass du dein Bestes für mich tust, okay?“
Ich nicke bereitwillig und Gia reißt die Tür weit auf.
„Willkommen im Irrenhaus“, brummt sie leise, dann ruft sie ins Zimmer hinein: „Carlo! Wir brauchen Ihre Hilfe!“ Und mit vereinten Kräften schleppen wir Ryan in den Empfangssalon.
Das Wohnzimmer ist so voll, dass man sich kaum rühren kann. Mein Blick fällt auf zwei jüngere Anzugtypen, die ich nicht kenne. Beide reden Englisch, kleben an ihren Smartphones und hocken auf den beiden Enden eines langen, niedrigen EmpireSofas, das eigentlich nicht so aussieht, als könnte es zwei ausgewachsene Männer tragen. Eine magere junge Frau mit schulterlangem rötlichem Haar in einem marineblauen Hosenanzug und festen Schuhen geht mit einem Tablett an uns vorbei, auf dem medizinische Instrumente und ein paar Fläschchen stehen. Juliana Agnelli-Re ist anwesend, ebenso wie ihr perfekt gestylter Leibarzt, der mich behandelt hat, nachdem ich als Irina vom Dach eines fahrenden Autos gesprungen war und mir die Füße verletzt hatte.
Carlo und Jürgen, zwei von Irinas Bodyguards, springen auf, als sie uns sehen, und kommen uns entgegen, um Ryan zu stützen. Gia öffnet die Tür zu ihrem Zimmer und schlägt die Decken auf ihrem Kingsize-Bett zurück.
„Stiefel aus und hinlegen“, kommandiert sie. „Aber vorsichtig. Der arme Kerl hat viel durchgemacht.“
Carlo und Jürgen gehorchen ohne Widerworte und Gia zieht die Decken bis über Ryans Hüften. „Dottore Pellini?“, ruft sie laut zur Tür hinaus. „Wenn Sie bitte so freundlich sein wollen?“
Der Doktor geht zu ihr.
Ich stehe immer noch an der Eingangstür und blicke mich um. Ich fasse Julianas verlorene Gestalt ins Auge, sehe, wie ihr Blick ins Leere geht. Sie trägt immer noch ihren kupferfarbenen Hosenanzug mit einer Chiffonbluse und den zweifarbigen Vintage-Mary-Janes – limetten- und dunkelgrün –, die sie zur Haute-Couture-Gala anhatte. Ihr verrückt gefärbtes Haar mit den dunklen Ansätzen und hellblonden Spitzen sieht ziemlich struppig aus. Auch Juliana hat ein paar Schrammen und Schnitte an Kopf und Hals davongetragen, so wie Gia, aber was ist das schon, wenn man eine Begegnung mit dem Erzengel Michael überlebt hat?
„Juliana ist jetzt die Chefin im Atelier Re“, murmelt Gia neben mir. „Private Label, Black Label, Vertrieb,
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