Mercy, Band 4: Befreit
Männermode, Accessoires. Alles lastet auf ihren Schultern. Stand von heute Morgen. Der Aufsichtsrat hat es durchgepaukt, was nicht weiter verwunderlich ist. Juliana war sowieso die Auserwählte. Aber jetzt ist es offiziell.“
Die Neuigkeit trifft mich so unvorbereitet, dass ich hinausposaune: „Und was ist mit Giovanni?“
Als der Name ihres Onkels fällt, hebt Juliana ihre rot geränderten Augen und blickt sich im Zimmer um. Gia legt mir warnend eine Hand auf den Arm. Die Geste sagt mir alles, was ich wissen muss.
Mit ihrem starken italienischen Akzent ruft Juliana zu mir herüber: „Waren Sie eine Freundin von ihm? Er hatte so viele Freunde.“ Dann senkt sie den Blick, um den verräterischen Glanz in ihren Augen zu verbergen. „Angeblich war er sofort tot. Und er war ja auch sehr krank“, fährt sie fort und schluchzt laut auf, hat sich aber sofort wieder im Griff.
Ich gehe zu ihr und greife nach ihrer Hand. Durch die Berührung erhalte ich Zugang zu ihren Erinnerungen – die Vergangenheit springt mich buchstäblich aus ihrem Kopf an, in Technicolor und Surroundsound. Ich sehe, spüre, höre, wie sie den Tod ihres Onkels erlebte. Juliana stand nur ein paar Meter von ihm entfernt, als er von einem riesigen Stahlträger zerquetscht wurde. Er hatte keine Chance.
Ihre Erinnerungen werden zu meinen, ja, ich werde selbst zu Juliana, versuche vergeblich, den Stahlträger von Giovannis blutüberströmtem Gesicht wegzustemmen. Flammen lodern über uns auf, wir ringen keuchend nach Luft, werden unablässig von der flüchtenden, kreischenden Menge herumgestoßen, die in blinder Panik zum Ausgang drängt. Aus dem Augenwinkel nehmen wir einen hochgewachsenen, schwarz gekleideten Mann wahr, der sein jugendliches Gesicht über Giovanni Re beugt, sodass ihm sein silbernes Haar in die Stirn fällt. Ganz kurz nur berührt der Fremde den sterbenden Giovanni, dann verschwindet er im Gedränge, bevor wir ihn um Hilfe bitten können, taucht in das Meer aus ständig wechselnden Gesichtern, die in Julianas Wahrnehmung verschwimmen. Der Fremde ist nur einer unter vielen. Azrael bedeutet ihr nichts. Sie erinnert sich kaum an sein Gesicht. Aber der Erzengel des Todes war da, mitten im Chaos, ist unangekündigt gekommen und gegangen, wie es seine Art ist. Er muss gestern Nacht unter der azurblau illuminierten Kuppel der Galleria alle Hände voll zu tun gehabt haben.
Ich lasse Julianas Hand los und die Erinnerung erlischt abrupt. „Giovanni hat nicht gelitten“, sage ich leise und mit absoluter Gewissheit.
Juliana antwortet nicht, fängt nun aber heftig an zu schluchzen. Sie schlägt beide Hände vors Gesicht und ihre Schultern beben vor Kummer. Die beiden Typen mit den Smartphones verziehen die Gesichter, erheben sich vom Sofa und verschwinden Richtung Tür.
Gia zieht die Augenbrauen hoch. „Ähm, wenn du schon dabei bist, kannst du vielleicht auch …“
Ich nicke, gehe zu Irinas Schlafzimmer und lege meine Hand auf die goldgerahmte Tür.
Einer der Anzugtypen blickt von seinem Handy auf und sagt: „Da können Sie nicht rein, Miss. Haben Sie mich verstanden?“
„Das ist Irinas beste Freundin“, klärt Gia ihn auf. „Bis gestern waren die beiden ein Herz und eine Seele.“
Ihr Mund zuckt verdächtig, und ich weiß, dass sie sich das Lachen verkneifen muss.
„Irina wird gar nicht merken, dass ich da bin“, sage ich auf Englisch, aber mit unverkennbar russischem Akzent. Meine Stimme klingt jung und naiv.
Gia sieht mich verwundert an. Sie kann es wohl nicht fassen, dass ich den Akzent so gut beherrsche – was ich natürlich Irina verdanke, aber vor allem auch meinem alten Boss im Green Lantern, Dimitrij Dimowskij.
„Okay, aber nur kurz“, sagt der Typ. Er winkt uns mit einer Hand durch, dann spricht er wieder in sein Telefon.
Wir gehen in Irinas Schlafzimmer und ich erkenne jede Einzelheit in dem hoffnungslos überladenen Raum wieder, abgesehen natürlich von dem Infusionsständer mit der Kochsalzlösung, dem Rollwagen voller Medikamente und Verbandszeug und dem Atemgerät, das für alle Fälle in einer Ecke steht.
Irina liegt reglos auf dem Kingsize-Bett unter einem frisch gestärkten Laken und einer Decke, die bis über ihre Hüften hochgezogen ist. Ihre rosige Haut ist völlig unversehrt und ihr schmaler Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig unter dem unvorteilhaften Krankenhaushemd. Schaudernd blicke ich auf den Körper hinunter, in dem ich zuletzt gefangen war.
Selbst im Schlaf ist Irina
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