Mercy, Band 4: Befreit
glanzlos wie vorher. Ich nicke Gia zu, sie holt einmal tief Luft und lässt dann die Tür los, die sofort krachend auffliegt. Einer der Anzugtypen – groß, dunkelhaarig, übergewichtig, mit hektischem rotem Gesicht – quetscht sich durch die Menschentraube, die sich hinter der Tür versammelt hat.
„Was geht hier vor?“, fragt der Typ. „Was waren das für grässliche Geräusche? Wir dachten, Sie bringen sie um!“
„Ach, das war bloß ein altes russisches Heilritual“, lügt Gia geistesgegenwärtig. „Weckt Tote auf.“
„Ist wie Gebet“, sage ich mit meinem starken russischen Akzent und meiner treuherzigen Mädchenstimme. „Nur mit Knurren dazu.“
„Und Schreien wohlgemerkt“, fügt Gia hinzu. Ich bin die Einzige, die ihr ihre Erschütterung anmerkt. „Schreien ist absolut unerlässlich bei diesem Heilritual. Je lauter, desto besser. Wir haben beide mitgeschrien, weil es die Atmosphäre reinigt. Und das haben Sie gehört.“
„ Dio! Miss Irina!“, ruft die Schwester plötzlich. „Sie sind ja wach!“
„Was? Sie ist wach?“, stößt der Typ hervor.
Als ich mich umdrehe, steht die Schwester an Irinas Bett, die Hände vor den Mund geschlagen, und Irina hat die Augen weit geöffnet, ihr Körper ist schweißüberströmt. Ihre Arme und Beine sind steif ausgestreckt, die Hände auf dem zerknautschten Laken zu Klauen gekrümmt, und die Decken liegen verknäult am anderen Ende des Zimmers. Irinas Hals ist mit roten Striemen übersät, die von ihren eigenen Fingernägeln stammen. Es erinnert mich daran, wie ich in Carmens Körper erwacht bin. In Irinas Augen liegt etwas Wildes, das mir vertraut ist.
„Lassen Sie ihr ein biiisschen Zeit“, bitte ich die Anwesenden ruhig. „Dann sie wird sein … Wie heißt es – so gut wie neu.“
Gelangweilt betrachte ich meine Fingernägel, spiele das oberflächliche Dummchen. Dabei bin ich fast so erschüttert wie Gia. Weil es mir gerade gelungen ist, eine gefangene Seele ins Leben zurückzuholen, so wie Gabriel es bei mir getan hätte. Und Irina, die wohl genauso orientierungslos ist wie ich damals, setzt sich auf und versucht zu sprechen. Was in jedem Fall besser ist, als tot sein.
„Du lieber Himmel, was haben Sie mit ihr gemacht?“, fragt der Anzugtyp.
Er kramt in seiner Jackentasche nach dem Telefon und wählt bereits eine Nummer, als die Schwester das Bettzeug aufsammelt und wieder über Irina legt.
„Gar nichts hat sie gemacht“, verkündet Gia kurz angebunden. „Sie hat Irina nur gezeigt, dass sich das Weiterleben lohnt.“
Ich werfe einen Blick über die Schulter zu Irina, die plötzlich den Kopf zu mir dreht und anklagend ihren langen Zeigefinger nach mir ausstreckt.
„Du …“, gurgelt sie.
Gia zieht mich zur Tür hinaus. „Irina hatte Krämpfe und Schaum um den Mund“, murmelt sie. „Sie hat sich die ganze Haut aufgekratzt. Und ihre Augen, oh Mann …“ Sie schluckt, dann fährt sie fort: „Und erst die Geräusche! Gott im Himmel! Wie in einem Horrorfilm, ehrlich, ich bin fast ohnmächtig geworden.“ Sie starrt mir ins Gesicht, verschränkt die Arme vor der Brust. „Eines Tages musst du mich auf ein Bier einladen und mir erklären, was ich da gerade gesehen habe.“
„Das Problem war, dass sie sich gewehrt hat“, sage ich und schaue in ihre entsetzten Augen. „Zwei fühlende Seelen, die in einem Körper zusammengesperrt sind, das ist nie ein schöner Anblick, wenn nicht eine davon … nachgibt.“
Gia schaudert, stößt heftig hervor: „Ich weiß nicht, wer du bist, aber sorg dafür, dass ich nie auf diese Weise heimgesucht werde. Von so was wie dir. Bitte.“
Es ist kein Trost, aber ich sage trotzdem: „Je schneller wir hier rauskommen, desto geringer ist die Chance, dass du je wieder von uns hören wirst. Was in der Galleria passiert ist, war eine Anomalie, ein Unfall.“
„Na, hoffentlich bleibt es dabei.“ Seufzend fügt Gia hinzu: „Okay, aber Deal bleibt Deal, und du hast deinen Teil weiß Gott erfüllt. Sag mir, was ihr beiden braucht, und ich werde es irgendwie beschaffen.“
Wir stehen an der offenen Zimmertür, Ryan liegt schlafend in Gias Bett, hat den Kopf nach hinten geworfen und die Decken zurückgestrampelt. Als er meinen Blick auf sich spürt, bewegt er sich im Schlaf und murmelt ein paar Worte, die ich nicht verstehe.
Dottore Pellini tritt zu uns, berichtet Gia diskret auf Italienisch, dass Ryan nichts Ernsthaftes fehle, dass er nur in nächster Zeit nicht so viel feiern dürfe.
„Er
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