Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
Vom Netzwerk:
wunderschön. Ihr glänzendes, karamellfarbenes Haar fließt über das Kopfkissen. Aber sie schläft ja gar nicht. Nur mit äußerster Konzentration kann ich erspüren, dass sie noch am Leben ist, so tief ist ihre Seele in ihr vergraben. Luc hat mich brutal aus Irinas Körper gerissen, ohne den letzten Knoten zu lösen, der ihre Seele gefangen hält.
    Eine Schwester eilt zu uns ins Zimmer und stellt das jetzt leere Tablett auf die barocke Kommode neben der Tür zum Badezimmer. Dann huscht sie wieder nach draußen. Durch die geöffnete Tür hinter uns höre ich, wie die beiden Anzugtypen hektisch in ihre Telefone reden.
    „Wir haben nicht viel Zeit“, sage ich zu Gia, die schnell die Tür schließt und dann vor mir her zu Irinas Bett geht.
    „Was fehlt ihr denn jetzt wirklich?“, fragt sie mich.
    Als ich nicht antworte, wirft sie mir einen ungeduldigen Blick zu. Aber plötzlich zieht sie scharf die Luft ein, denn meine Haut, meine ganze Gestalt, ist von schimmerndem Licht umhüllt. Ich verwandle mich bereits, meine Umrisse flimmern und verschwimmen.
    In Sekundenschnelle löse ich mich vollends auf, blicke in Gias Gesicht hinunter, das starr vor Ehrfurcht ist. Schließlich bin ich nur noch Dunst, eine aufgetürmte Wolke aus feinem Silbernebel, ein dichter Wirbel, und nehme alle Wärme im Raum mit mir fort. Dann werde ich in die albtraumhafte Rennstrecke eingesaugt, die der menschliche Körper für ein Wesen wie mich darstellt. Diesmal suche ich nicht nach einem Ausweg, noch nicht. Nein, ich jage dem innersten Kern nach, auf den Irinas Seele reduziert wurde.
    Wo kann er nur sein?
    Luc hat mich mit Gewalt aus Irina herausgezerrt. Folglich muss es irgendwo einen Riss, ein loses Ende, einen Hinweis geben.
    Und tatsächlich stoße ich auf etwas. Es ist die Signatur meiner Brüder – elegant, schimmernd – und dann lese ich die Handschrift eines anderen: Wut, Hass, Rachsucht.
    Und endlich finde ich den Hinweis – eine Naht, einen losen Faden. So winzig, dass ich ihn fast übersehen hätte.
    Ich folge dem losen Faden bis zu seinem Ursprung, dorthin, wo das Muster, die Energie von Irinas Seele erkennbar wird. Mercy! , ertönt eine verzweifelte Stimme, die von überall her zu kommen scheint, obwohl ich keine Ohren zum Hören habe, obwohl ich nichts als reine, gerichtete Energie bin. Schnell, beeil dich!
    Ich nehme das winzige Ende, entrolle es, lasse es hinter mir herströmen wie ein Band, während ich den verschlungenen Pfaden folge, den falschen Spuren, dem komplexen, vielfach gebrochenen Muster von Irinas Seele. Und die ganze Zeit verrichte ich meine Arbeit, heile, glätte und reinige, damit die Flamme sich neu entzünden und die Seele wieder zurückkehren kann.
    Dann spüre ich, wie sich etwas anstaut – ein Druck, ein gewaltiger elektrischer Sturm –, wie alles in Irina sich aufbäumt, als wäre ihr Körper ein Gebäude, das bis in die Grundmauern erschüttert wird. Aus ihrem Mund kommen Schreie, als wäre sie besessen. Und in diesem Augenblick bin ich auch nichts anderes als ein Dämon. Irina will mich nicht in ihrer Blutbahn haben, ich bin ein quälender Fremdkörper für sie, den sie unter allen Umständen loswerden muss. Es fühlt sich so entsetzlich falsch an.
    Mercy! , höre ich wieder die körperlose, verzweifelte Stimme rufen. Bitte! Schnell!
    Und ich kann es ja selber kaum erwarten, endlich hier rauszukommen. Dann zieht sich schlagartig alles zusammen und ich werde plötzlich mit unbeschreiblicher Gewalt aus Irinas Körper hinausgeschleudert. Zum allerletzten Mal.
    Ich lande auf dem Boden neben ihrem Bett, und als ich mich umdrehe, steht Gia am anderen Ende des Zimmers, den Rücken gegen die geschlossene Tür gestemmt. Sie schafft es kaum noch, sie zuzuhalten.
    Kreidebleich und mit aufgerissenen Augen starrt Gia mich an. „Tu was!“, zischt sie und zeigt auf den verräterischen Schimmer, der meine Haut einhüllt. „Ich kann die Tür nicht länger zuhalten.“
    „Machen Sie sofort auf!“, brüllt eine Männerstimme. „Hören Sie mich?“
    Die Tür öffnet sich einen Spalt, bis Gia sie wieder zuknallt und ihren zierlichen Körper mit aller Kraft dagegendrückt.
    Das Hämmern draußen wird immer heftiger. „Mercy!“, fleht Gia.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich das Schimmern meiner Haut unter Kontrolle. In Wahrheit sind nur wenige Sekunden vergangen, denn plötzlich stehe ich am Fußende von Irinas Bett und meine Hände, meine Locken, meine Kleidung, alles an mir ist wieder stumpf und

Weitere Kostenlose Bücher