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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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elektrischen Haarschneidemaschine und reiche sie Tommy, der mir dafür die beiden Brillengestelle in die Hand drückt.
    „Wir warten draußen auf dich“, sage ich zu Ryan.
    Tommy trägt einen der antiken Esstischstühle durchs Zimmer und steckt eine schöne, aber nutzlose Lampe aus, um stattdessen die Haarschneidemaschine anzuschließen.
    Irgendwann kommt Ryan aus dem Bad und macht ein Gesicht, als wäre er gerade auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung. Er ist sauber rasiert, trägt T-Shirt und Jeans und seine Haare sind noch feucht. Widerstrebend setzt er sich auf den Stuhl.
    Kaum wirft Tommy die Haarschneidemaschine an, klingelt es wieder an der Eingangstür der Suite und ein Portier rollt einen Kleiderständer herein, an dem zwei Abendkleider hängen, beide in einer handgenähten Schutzhülle aus einem schimmernden, durchsichtigen Material, das ich nicht benennen kann. Ich erkenne die beiden Stücke sofort als Design Nr. 13 und Nr. 28 aus Giovanni Res letzter Kollektion. Nr. 13 ist ein schmal geschnittenes, ärmelloses One-Shoulder-Kleid im Markenrot von Giovanni Re mit verspieltem Ausschnitt und tiefem Rücken. Das zweite ist ein silbernes, schulterfreies Kleid im Stil der Dreißigerjahre, das mit Unmengen von Pailletten besetzt ist. In der Nacht, als ich Bianca St. Alban im Atelier Re begegnet bin, waren sie für mich zum Vorführen ausgelegt worden, aber ich bin nie dazu gekommen, sie zu tragen.
    Und jetzt sehe ich sie wieder, was ein seltsames Gefühl in mir auslöst. Ich konnte nie etwas Konkretes aus einem Leben ins nächste mit hinübernehmen. Meine Existenz hatte bisher etwas erschreckend Flüchtiges, war von einer Aura des Vergänglichen geprägt, genauso wie die Welt um mich herum. Doch das änderte sich, als Ryan auf der Bildfläche erschien. Jetzt bin ich von Menschen umgeben, die ich bereits kennengelernt habe, wenn auch unter anderen Umständen. Und selbst die Umgebung, die Kleider, sind mir vertraut. Es ist wie ein Erdrutsch mit unabsehbaren Folgen.
    Obwohl sie die Kleider kaum eines Blickes gewürdigt hat, bittet Juliana Gia, sie wegzubringen. Die Kleider werden wieder aus der Suite hinausgerollt, und als Gia mein bestürztes Gesicht sieht, murmelt sie: „Keine Sorge, sie werden gleich ins Auto gebracht. Was willst du überhaupt in Moltrasio? Dort würden mich keine zehn Pferde hinbringen. Du hast doch die Nachrichten gesehen. Nichts als Tod und Verwüstung.“
    „Der Tod war da und hat bekommen, was er wollte“, erwidere ich abwesend, weil ich an die beiden Kleider denke, diesen Flitterkram, der Ryan und mir als Vorwand dient, um in das Katastrophengebiet am Seeufer zu kommen. Sobald wir die beiden kostbaren Stücke Bianca St. Alban ausgehändigt haben, kann ich in der Gegend von Moltrasio nach Nuriels Spuren Ausschau halten – am Himmel, im Wasser, am Boden, in den Bäumen. Eine Eloha löst sich nicht einfach in Luft auf, schon gar nicht, wenn sie nicht freiwillig gegangen ist. Wie ich Nuriel kenne, hat sie garantiert einen Hinweis hinterlassen.
    Juliana unterschreibt den Empfehlungsbrief mit dem Briefkopf des Ateliers Re, dann verlässt sie in Begleitung von Dottore Pellini die Suite. Tommy ist währenddessen mit Ryan beschäftigt und verpasst ihm den gewünschten Kurzhaarschnitt. Carlo und Jürgen sitzen grinsend dabei und weisen ihn auf die Stellen hin, die er noch übersehen hat.
    Wieder ertönt die Türklingel und zwei weibliche Hotelangestellte in braun-goldenen Uniformen tauchen mit dem Essen auf. Gia und ich schauen zu, wie die Trolleys ausgeladen und Berge von köstlichem Essen und Trinken auf dem Tisch angerichtet werden. Mitten in die Stille hinein stößt Irina einen Schrei aus, der mir das Blut in den Adern stocken lässt, und dann folgt ein lautes Kloing!, als sei etwas Metallisches gegen ihre geschlossene Schlafzimmertür gekracht. Die beiden Bedienungen wechseln einen verstohlenen Blick, dann entschuldigen sie sich hastig und verschwinden zur Tür hinaus.
    Gia grinst mich an und sagt: „Die Krankenschwester hätte inzwischen bestimmt nichts mehr dagegen, wenn Irina noch im Koma liegen würde.“
    „Ich bin hier fertig!“, ruft Tommy herüber.
    Wir drehen uns um, und mir bleibt der Mund offen stehen, als ich Ryan sehe. Er wirkt schmaler und älter, und die dunklen Schatten unter seinen Augen, die Blässe seiner Haut, die kantigen Gesichtszüge, seine Kopfform kommen noch besser zur Geltung als vorher. „Oh, Ryan“, sage ich leise. Was habe ich ihm nur

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