Mercy, Band 4: Befreit
Innentasche zum Vorschein kommt. Dann zieht er den Reißverschluss auf, greift hinein und holt ein Telefon, ein Notizbüchlein, einen kleinen Ledergeldbeutel und ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das an den Rändern bereits eingerissen ist. Er wirft alles auf Gias Bett außer dem Papier. Wortlos faltet er das Papier auseinander und ich blicke erschrocken zu ihm auf, weil mir plötzlich klar wird, was es ist. Bevor ich reagieren kann, sind wir schon von Tommy und Gia umringt, die das Bild betrachten.
Es ist eine Buntstiftzeichnung von einer lächelnden jungen Frau mit ovalem Gesicht, einer langen geraden Nase, hübsch geschwungenen Lippen, großen, weit auseinanderstehenden braunen Augen und langem braunem Haar. Es ist ein starkes, eigenwilliges Gesicht, das nur aus Ecken und Kanten zu bestehen scheint. Mein Gesicht. Mein wahres Gesicht, das ich versteckt halten muss, bis Ryan und ich unseren Auftrag erfüllt und die entführte Erzengelin Nuriel gefunden haben.
„Eine gewisse Ähnlichkeit ist da“, murmle ich gedankenverloren. Das Bild hat tatsächlich viel Ähnlichkeit mit dem Gesicht, das ich oft genug im Spiegel gesehen habe, wenn es hinter den Gesichtern meiner Gastmädchen durchschimmerte. Ein Schauder überläuft mich.
„Sie ist schön“, murmelt Gia staunend. „Ein starkes, ungewöhnliches Gesicht.“
„Wer ist das?“, ruft Tommy, der Ryans zusammengeknüllte alte T-Shirts in den Abfallkübel im Badezimmer wirft und dann wieder zu uns zurückkommt, um die Zeichnung genauer zu betrachten.
„Ich hatte die Jacke hier an, als ich das Mädchen auf der Zeichnung zum ersten Mal gesehen habe“, sagt Ryan mit einem verstohlenen Blick zu mir. „Und ich renne ihm jetzt schon eine ganze Weile nach – durch die halbe Welt. Die Jacke bleibt. Das ist mein letztes Wort.“
Gia schaut von Ryan zu mir, und schließlich sagt sie: „Ja, ist gut, mach nur. In Tommys Jacke würdest du sowieso total bescheuert aussehen.“
„He, das ist eine Dreitausend-Dollar-Jacke!“, protestiert Tommy gekränkt.
„Ja, genau, und ein absoluter Hingucker – das reinste Verkehrshindernis“, stimmt Gia mit unbewegter Miene zu. „Aber die beiden hier sind nicht darauf aus, Aufsehen zu erregen, verstehst du? Auch wenn das Wörtchen ‚unauffällig‘ in deinem Vokabular nicht vorkommt, Süßer.“
Ryan streift seine alte Lederjacke über den Kapuzenpulli. Dann setzt er sich auf den Rand von Gias Bett, zieht die sauberen kakifarbenen Wandersocken an, die Tommy mitgebracht hat, und steigt in seine ausgetretenen Stiefel. Zum Schluss sammelt er die Sachen ein, die auf dem Bett verstreut liegen, stopft sie wieder in die Innentasche seiner Jacke, zusammen mit der Zeichnung, und zieht den Reißverschluss zu.
„Fertig?“, sagt er und schaut zu mir auf.
Er lächelt, und in seinen Augen liegen so viel jugendliche Unbefangenheit, so viel Liebe und Tatendrang, dass mich eine schreckliche Vorahnung erfasst.
Wenn du mich hörst , denke ich verzweifelt, beschütze ihn. Mach, dass er am Leben bleibt.
„Okay, Leute, war echt nett mit euch“, murmelt Gia und schaut uns eindringlich an, bevor sie mir den Rucksack über die Schulter streift. „Aber wie heißt es noch? Con te partiro – Zeit, Lebewohl zu sagen.“
Mich überläuft es kalt bei diesen Worten, und ich folge Gia und Tommy schweigend zur Tür.
Gia befiehlt Carlo mit strenger Miene, uns zum Auto zu begleiten.
„Mach’s gut“, sagt sie in ihrem hochnäsigen Upperclass-Englisch zu Ryan und ihre Augen glänzen verdächtig. „Und ruf mich an, wenn du mal in der Klemme steckst, okay?“
Ryan nimmt Gia samt ihrer Stacheljacke vorsichtig in die Arme, dann schüttelt er Tommy verlegen die Hand.
„Ach hör auf, du musst mir nicht danken“, wehrt Tommy ab, „ich hab dich doch eigentlich nur verschandelt.“
Mir nickt er kurz zu und runzelt einen Augenblick die Stirn, weil er immer noch nicht weiß, wie er mich einzuordnen hat.
Gia funkelt mich an und stößt mit erstickter Stimme hervor: „Fass mich ja nicht an, und sag nichts, sonst flenn ich gleich los. Also, Abmarsch jetzt. Und setze deine Kräfte für die richtige Sache ein, ja?“
Carlo öffnet die Tür und scheucht uns hinaus wie unerwünschte Gäste. Dann geht die Tür hinter uns zu. Meine Zeit mit Irina ist endgültig vorbei. Ich glaube kaum, dass ich sie noch einmal sehen werde, außer vielleicht auf dem Cover einer Modezeitschrift, und irgendwie tut es mir fast leid.
Ryan legt mir eine Hand auf
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