Mercy, Band 4: Befreit
den Rücken, als wir zum Lift gehen, und die Stelle, an der er mich berührt, wird sofort glutheiß.
„Man kann auch mit dem Feuer spielen, ohne sich zu verbrennen“, sagt Ryan leichthin.
Und ich schaudere innerlich.
Wir folgen Carlo in den schalldichten Lift. Ryan betrachtet sich staunend in den verspiegelten Wänden. Ich krame im Rucksack, bevor der Lift im Erdgeschoss aufgeht, und drücke Ryan die Basecap und die Schildpattbrille mit Fensterglas in die Hand. Widerstrebend setzt er beides auf.
„Ich hab keine Ahnung von Mode, okay“, knurrt er, während er mir den hässlichen Rucksack abnimmt und ihn sich über die Schulter wirft, „aber dass ich jetzt wie der letzte Nerd aussehe, ist sogar mir klar.“
„Na und wenn schon? Was zählt, sind die inneren Werte“, ziehe ich ihn auf. Dann treten wir wieder in die glitzernde Empfangshalle und folgen Carlo durch die langsam kreisende Drehtür.
Die schwarze Limousine mit der silbernen Kühlerfigur – eine schimmernde geflügelte Frau in vollem Flug – wartet direkt vor dem Hoteleingang und blockiert protzig die halbe Einfahrt. Ein paar Gäste sehen neugierig zu uns herüber, als Carlo uns zum Wagen begleitet, denn wir sehen nicht reich aus, geschweige denn berühmt.
Carlo öffnet die Fondtür, sagt höflich „Signor“, und Ryan quetscht sich geduckt auf den Rücksitz, dann rutscht er ans andere Ende hinüber. Auf dem Sitz gegenüber liegen bereits die Couture-Kleider in ihren edlen Schutzhüllen. Eine blickdichte Glasscheibe trennt den Fahrer von uns.
„Die muss runter“, sage ich scharf zu Carlo. „Und sagen Sie dem Fahrer, dass er die Scheibe unten lassen soll. Ich muss die Straße vor uns sehen können.“
Carlo trommelt unverzüglich an das Fenster auf der Fahrerseite. Die Trennwand verschwindet lautlos, und ich sehe, dass unser Fahrer der Mann ist, mit dem Gia vorher gestritten hat. Er sieht noch unglücklicher, noch verbissener aus als bei meiner letzten Begegnung mit ihm. Carlo gibt ihm in schnellem, leisem Italienisch ein paar letzte Anweisungen, dann sagt er kühl „Signorina“, hilft mir in den Wagen und knallt die Tür hinter mir zu.
Er klopft kurz auf das Dach der Limousine und sie rollt lautlos vom Bordstein herunter. Noch ehe wir wieder auf der Straße sind, hat Ryan bereits das Innere der Limousine inspiziert. Ihm fallen vor Ehrfurcht fast die Augen heraus.
„Mit so was wollte ich schon immer mal fahren!“, ruft er bewundernd, rutscht tiefer in seinen Sitz und klappt die breite Lederarmstütze hoch, die uns trennt. Dann legt er seinen Arm um mich, als wäre es das Natürlichste der Welt. Er wirft einen Blick aus der dunkel getönten Fensterscheibe und dreht sich wieder zu mir. „Nobel, nobel“, stichelt er. „Öffentliche Verkehrsmittel sind wohl nicht gut genug für einen Erzengel, was?“
Ich kann seinen Spott verstehen, denn verrückter geht’s wirklich nicht: Ein Erzengel, ein Sterblicher und zwei Abendkleider fahren in einer Stretchlimousine mit Chauffeur durch Mailand. Wenn das nicht komisch ist! Aber wer weiß, vielleicht funktioniert es trotzdem.
Ich drehe den Kopf und schaue aus dem Fenster, sehe aber weder die menschengeschaffenen Steinschluchten, die um mich aufragen, noch den zarten Aquarellhimmel, sondern Nuriels verletzliches Gesicht und ihren flehenden Blick. Und plötzlich steigt eine rasende Wut in mir auf, und meine linke Hand krümmt sich auf meinem Schenkel zusammen, als wollte sie den Griff eines mächtigen Schwerts umfassen. Während wir die Via Bocchetto entlangzischen, wispert eine Stimme in meinem Hinterkopf: Denn die Zeit wird kommen, da ihr die gerechte Strafe widerfährt. In einer gepanzerten Limousine mit Chauffeur, eingebauter Minibar und Surround-Anlage.
„Darauf sind die garantiert nicht gefasst“, murmle ich so leise, dass Ryan seinen Kopf zu mir vorbeugen muss. „Sie werden uns nicht kommen sehen. Besser geht’s nicht.“
Es ist früher Nachmittag, der Himmel blassblau mit winzigen Wolkenschleiern, die zarte Muster bilden, wie der Wind sie manchmal in einer Sanddüne hinterlässt. Trotz der Umleitungen und Straßensperren, auf die wir an fast jeder Ecke treffen, kann die Fahrt nach Moltrasio nicht lange dauern, denn der Ort liegt nur ein kleines Stück weiter nördlich. Wir müssten noch vor Einbruch der Nacht dort sein.
Ryan ist wieder eingeschlafen. Ich bin wach und halte die Augen offen. Ich studiere die Dächer der Gebäude, an denen wir vorbeikommen, die Menschen in ihren
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