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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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unteren Grundstücksgrenze, fast direkt am Seeufer, und genau da will ich hin. Mein einziger Anhaltspunkt ist der Albtraum, in dem ich durch Lucs Geist gesehen und miterlebt habe, wie er Nuriel über die dunklen Wasser des Comer Sees jagte. Ich muss irgendwie vom See aus auf die Uferlinie schauen, dann finde ich vielleicht heraus, was hier geschehen ist.
    Möglichst beiläufig sage ich: „Wir möchten die Kleider gern selber zu Bianca bringen. Ich bin ihr erst vor ein paar Tagen im Atelier Re begegnet, kurz vor der Haute-Couture-Schau. Dort unten ist doch das Gästehaus – die dépendance , wie Sie es genannt haben?“
    Clara nickt. „Dann sind Sie Freunde von Miss St. Alban? In letzter Zeit lebt sie sehr zurückgezogen …“
    Ich nicke. „Juliana wollte die Kleider möglichst schnell zu Bianca bringen lassen und weil Moltrasio auf unserem Weg liegt, habe ich ihr meine Hilfe angeboten. Diese Geschichte mit Félix de Haviland …“ Ich runzle die Stirn. „So traurig, wirklich … einfach entsetzlich!“
    Ryan blinzelt einen Augenblick und überlegt, wo er den Namen schon einmal gehört haben kann.
    „Du weißt schon, mein Lieber“, säusle ich, drehe mich zu ihm um und lege eine Hand auf seinen Arm. „Du hast doch erst kürzlich mit Juliana darüber geredet. Erinnerst du dich?“
    Ryans Gesicht hellt sich auf. „Dieser Félix war schon immer ein Idiot“, sagt er missbilligend.
    „Félix hat ihr das Herz gebrochen“, murmelt Clara und schaut zum Gästehaus hinunter. Aus den deckenhohen Fenstern fällt Licht auf den Rasen und wirft hübsche Schattenmuster. „Sie wird froh sein, ein paar vertraute Gesichter zu sehen. Ihre Eltern reisen von einer Konferenz zur anderen, wie immer um diese Zeit. Bianca fühlt sich langsam schon wie eine Gefangene, so allein hier, verstehen Sie? Und dann noch der ganze Horror, der hier passiert ist …“
    Sie berührt kurz meinen Handrücken, und ich fange ihren Schrecken aus jener Nacht auf, in der sie erwachte und die seltsamen Lichter am Himmel sah. Das ganze Anwesen war von einem Feuer umzingelt, wie sie es noch nie erlebt hatte. Fast schien es, als wären die Flammen lebendig. Sie hatte aus ihrem Schlafzimmerfenster im oberen Stock geschaut und entsetzt mit angesehen, wie die Bäume und Häuser an der ganzen Uferlinie in Flammen aufgingen. Über dem See waren feurige Linien erschienen, wie heilige Schriftzeichen, ohne erkennbare Ursache. Clara hatte die Hauptstraße in der Ferne brennen sehen und gebetet – hatte jedes einzelne Gebet rezitiert, das sie als Kind gelernt hatte, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
    Ich schüttle ihre Hand unauffällig ab, denn ich weiß jetzt, dass ich unbedingt zum See kommen muss.
    „Wir besuchen noch andere Freunde in der Gegend“, sage ich, „wollen uns erkundigen, wie sie zurechtkommen. Wir gehen jetzt schnell zu Bianca und reden ein paar Worte mit ihr und lassen die Kleider da und dann müssen wir auch schon weiter.“
    „Ja, wir sind gleich wieder weg, keine Sorge“, fügt Ryan herzlich hinzu, und in seiner biederen Aufmachung wirkt er so vertrauenswürdig wie der nette Junge von nebenan. Clara zwinkert ihm unwillkürlich zu.
    „Ach was“, sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Miss St. Alban wird froh über die Ablenkung sein. Gehen Sie an dem kleinen Pavillon links von mir vorbei, dann kommen sie auf den Weg zum Gästehaus.“
    Sie winkt uns kurz zu und geht ins Haus zurück. Bevor sie die Tür hinter sich schließt, höre ich sie noch rufen: „Tomaso, sag Gregory, dass …“
    „Für einen ehrlichen Kerl kannst du verdammt gut lügen“, wispere ich Ryan grinsend zu, als wir zu dem kleinen Pavillon aus Marmor und schmiedeeisernen Elementen kommen, der am Rand des Grundstücks steht.
    Ryan nimmt die schwere Brille ab, lässt sie erleichtert in seine Tasche gleiten und reibt sich den Nasenrücken.
    Einen Augenblick verweilen wir unter dem filigranen Dach des Pavillons und blicken zu den ersten Sternen auf, die am Abendhimmel leuchten. Dann lassen wir beide wie auf ein Stichwort unser Gepäck auf die Marmorbank im Pavillon fallen und Ryan zieht mich in seine Arme. Eng umschlungen schauen wir auf den dunkel werdenden See hinaus, während um uns herum Wind aufkommt, durch den Pavillon geistert, durch die Kiefern, die über uns aufragen. Der Blick ist atemberaubend. Blinkende Lichter säumen die Hügel, spiegeln die Himmelslichter, als wäre eine Sternengirlande vom Firmament gefallen und am

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