Mercy, Band 4: Befreit
ganz verrückt von den Bränden“, sagt Ryan schnell, aber Tomaso dreht sich nicht einmal zu uns um. Er geht einfach zügig weiter und seine Schritte sind nahezu lautlos.
Ich habe mir angewöhnt, jede Spur von menschlicher Energie um mich herum sofort auszublenden, und das gelingt mir immer besser. Ich fange nur auf, was mir gerade wichtig erscheint, und den Rest schmettere ich ab. Aber jetzt schalte ich mich einen Augenblick in Tomasos Gedankenstrom ein, weil ich wissen will, was er von uns hält. Ich fange kein Erschrecken auf, nicht die mindeste Neugier, warum die Hunde sich so aufführen, obwohl das für diese Rasse ganz untypisch ist. Er hält uns für das, was wir nach außen hin darstellen: zwei reiche junge Ausländer, die einen absurden Botengang erfüllen und wegen zwei lächerlicher Abendkleider in der Gegend herumfahren. Ich entspanne mich ein bisschen, sodass ich endlich meine Umgebung aufnehmen kann.
Die Villa thront auf einem Steilhang oberhalb des riesigen Grundstücks, das in kunstvoll angelegten Terrassen bis zum Seeufer abfällt. Direkt an den Vorplatz schließt sich ein Parterregarten an, der um eine Reihe von kleinen runden Teichen angeordnet ist. Darunter liegt ein Zitronen- und Orangenhain mit geschwungenen Steinbänken dazwischen. Die nächste Ebene bildet ein klassischer Skulpturengarten mit Nymphen und Satyrn. Die breite Mitteltreppe, die zum Haupthaus führt, ist mit Wasserspielen gesäumt.
Außerdem entdecke ich einen gut versteckten Weg, der das Haupthaus mit dem Gästehaus am Fuß des Hügels verbindet – ein viel kleineres, modernes einstöckiges Gebäude aus Glas und Stahl. Eine hohe Steinmauer mit einem weiteren schmiedeeisernen Tor bildet die untere Grenze des Grundstücks. Dahinter liegt eine schmale Straße.
„Krass“, haucht Ryan und deutet auf einen langen, schmalen Landesteg, der gegenüber dem unteren Tor in den See hineinragt. Eine große Jacht und ein paar kleinere Motorboote sind daran verankert.
„Das müssen wir noch abchecken“, forme ich mit den Lippen hinter Tomasos breitem Nacken.
Ryan nickt und seine Brillengläser blitzen auf.
Wir überqueren ein großes Renaissancewappen aus polierten schwarz-weißen Steinen, das den Boden vor dem Haupteingang schmückt, und im selben Moment geht die Eingangstür auf, die mit zahlreichen Schnitzereien verziert ist. Eine schlanke junge Frau in einem langärmligen weißen Kleid mit weißem Schürzchen tritt heraus. Als sie uns sieht, huscht ihr ein Lächeln übers Gesicht und sie kommt mit ausgestreckten Armen auf uns zu, um uns zu begrüßen.
„Gott sei Dank sind Sie heil angekommen“, sagt sie mit weichem irischem Akzent. „Als das Büro von Signora Agnelli-Re angerufen und uns mitgeteilt hat, dass Sie bereits unterwegs seien, also da dachte ich …“ Ein Schatten huscht über ihr Gesicht, dann fügt sie fröhlich hinzu: „Aber jetzt sind Sie ja hier. Darf ich Ihnen das abnehmen, Sie sind doch sicher ganz erschöpft?“
Ryan und ich wechseln einen Blick miteinander. Ich halte die Schutzhüllen mit den Kleidern ein wenig höher.
„Es tut mir leid, Miss …“, fange ich an, dann verstumme ich abwartend.
„Clara“, stellt sie sich vor. „Wie unhöflich von mir. Ich bin Clara O’Manley.“
„Clara“, fahre ich geschmeidig fort, „aber ich habe strikte Anweisungen, die beiden Designer-Stücke Bianca St. Alban persönlich zu überreichen. Mrs Agnelli besteht darauf. Die Kleider sind jetzt unbezahlbar, wie Sie sich sicher denken können.“
Claras ausdrucksvolles Gesicht spiegelt eine ganze Bandbreite von Empfindungen wider – Überraschung, Verständnis, Mitgefühl und schließlich eine einstudierte Neutralität. „Tomaso“, sagt sie zu dem Gorilla, der stumm neben uns wartet, „Gregory soll in der dépendance anrufen und fragen, ob Signorina Bianca unsere Besucher empfangen kann … Miss …“ Clara hält jetzt ihrerseits inne und wartet, dass wir uns vorstellen.
„Ryan Daley“, sagt Ryan höflich und gewandt und hält ihr seine rechte Hand hin. „Und Mercy.“
„Mein Nachname ist leider unaussprechlich“, werfe ich schnell ein und schüttle ihr die Hand, die sich rau, kühl und trocken anfühlt. „Nennen Sie mich einfach Mercy.“
Tomaso geht schweigend um uns herum und verschwindet in der Villa. Unsere Namen werden Bianca St. Alban nichts sagen. Ryan hat sie nie gesehen, und mich kennt sie nur als berühmt-berüchtigte Irina Zhivanevskaya. Aber sie wohnt in dem Gästehaus an der
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