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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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Welt hat der Typ gesagt, dass wir uns nicht umschauen sollen?“, fragt Ryan verwundert, als wir die verlassene Straße am See entlangfahren. „So was Schönes hab ich noch nie gesehen.“
    Aber der durchdringende Gestank nach Rauch und Asche wird immer stärker. Und jetzt entdecke ich auch die dunklen Stellen zwischen den Baumkronen und einen seltsamen dunklen Fleck auf der hellen Fassade einer vornehmen Villa auf der anderen Seite des Ufers. Dann biegen wir in die Hauptstraße von Moltrasio ein. Hier reiht sich ein Geschäft ans nächste, Häuser in fröhlichen Farben, aber das Ausmaß der Zerstörung ist schockierend und überall wimmelt es von Leuten.
    Eine Feuerwehrmannschaft löscht noch die qualmenden Ruinen eines Gebäudes, das vorher ein Weingeschäft gewesen sein muss. Die Fahrzeuge, die dort stehen, sind ausgebrannt und zu unförmigen Metallklumpen geschmolzen. Wir fahren, ohne anzuhalten, an den zerbrochenen Schaufenstern eines Feinkostladens vorbei, an einem zerstörten Fotostudio, einem Schuhgeschäft, das zwar noch eine Eingangstür, aber kein Dach mehr hat. Unser Fahrer muss mehrmals abbremsen, um den riesigen Schutthaufen aus halb verflüssigtem Stein und Beton, aus Backstein, Stahlgitterwerk und Ziegeln auszuweichen oder die gefährlichen Risse und Schlaglöcher zu umfahren, die in der Straße klaffen.
    Durch die Ruinen wandern aschebedeckte Gestalten, irren wie in Trance herum, bücken sich, um den Schutt am Boden zu durchwühlen, als hätten sie etwas verloren, oder sie heben die Hände und ihre schmerzverzerrten Gesichter zum Himmel. Keiner von ihnen beachtet die uniformierten Katastrophenhelfer, die nach Kräften versuchen, ein einsturzgefährdetes Gebäude abzustützen. Ihr verzweifeltes Rufen hallt weithin durch Dunst und Qualm.
    Von Juliana weiß ich, dass Moltrasio nur teilweise zerstört wurde. Die Verwüstung muss also noch viel schlimmer sein, je weiter man am Seeufer entlang in Richtung Damaso kommt. Ich balle meine linke Hand zur Faust, spüre, wie der alte Schmerz wieder in mir auflodert.
    „Was ist das denn?“, fragt Ryan plötzlich und ich schrecke aus meinen Gedanken auf.
    Er zeigt auf eine dunkle Silhouette, die sich auf der honiggelben Fassade eines Ladens direkt vor uns abzeichnet. Es sieht aus, als hätte jemand den Schattenriss eines Mannes mit Kohle an die Wand gemalt.
    Neben dem merkwürdigen Schattenbild steht ein großer, kahlköpfiger Mann mit schlaffen Gesichtszügen. Sein Anzug, seine Haut, Augen und Haare sind dick mit grauem Staub verkrustet, keine Spur von Farbe an ihm, nicht einmal ein roter Rand um die Augen. Er könnte aus Asche sein – selbst das Weiße seiner Augen ist aschgrau. Der Mann streckt hilfeflehend die Hände nach mir aus, und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Seine Silhouette gleicht dem Schattenriss an der Wand.
    „Hast du ihn gesehen?“, flüstere ich Ryan zu. „Auf der Straße wimmelt es von solchen Gestalten.“
    Ich drehe mich um, knie mich auf den Sitz und spähe durch das Rückfenster zu dem Mann hinaus, der immer noch vor der Hauswand steht, als hielte ihn der Schmerz dort fest. Seine Augen folgen unserem Wagen mit stummem Flehen.
    „Was für Gestalten?“, fragt Ryan verwirrt. „Meinst du die Suchtrupps? Aber so, wie das hier aussieht, werden sie kaum noch Überlebende finden.“
    Und plötzlich weiß ich, wer dieser Mann war, den Ryan nicht gesehen hat, genauso wenig wie die vielen anderen herumirrenden Gestalten. Es sind Aschewesen, die, für die Azrael keine Verwendung hat, weil sie nicht schuldlos waren. Und der Schattenriss an der Wand stammt von einem dieser Unglücklichen, die im Feuer gestorben sind. Maltrasio ist eine Geisterstadt. Wie Hiroshima, wie Nagasaki.
    Und das alles ist Lucs Werk.
    Ich werde dich zur Strecke bringen , höre ich ihn wieder mit seiner rauchigen dunklen Stimme sagen, die mir einst meine Sinne vernebelte. Verlass dich drauf.

Die Hinterräder der Limousine mahlen im Schutt, greifen nicht, sosehr der Fahrer auch die Gänge malträtiert und den Motor hochjagt, um den Wagen aus dem riesigen Schlagloch herauszubekommen. Dabei ist das hohe Tor der Villa Nicolin schon in Sichtweite.
    Der Polizist, der uns eskortiert hat, grüßt von seinem Motorrad und donnert davon.
    Ich lasse das Schloss an meiner Tür aufklicken und packe Ryan an der Hand. „Komm schon“, sage ich und springe aus dem federnden Wagen. Die kostbaren Kleider auf ihren gepolsterten Bügeln habe ich über den Arm

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