Mercy, Band 4: Befreit
unaufhörlich abspult wie eine Angelleine, so wie immer.
Dann taucht der Haupteingang des Gästehauses vor uns auf und eine schlanke Mädchensilhouette zeichnet sich in der Tür ab. Das elektrische Licht umgibt sie wie ein Heiligenschein. Sie steht nur da und blickt abwartend zu uns hoch.
Ich drücke Ryan die Kleider in die Hand und wispere: „Bis gleich, okay?“
Bevor er antworten kann, lasse ich meine Umrisse zu blassem weißem Dunst verschwimmen und löse mich restlos auf. Dann bin ich Äther, in Billionen Partikelchen zerstäubt, lautlos.
Ryan weicht erschrocken zurück und blickt wild um sich. „Gott, Mercy, ich hasse das!“, ruft er.
Ich muss lachen und er zuckt bei dem leisen Geräusch zusammen, das von überall und nirgends zu kommen scheint.
Ich umkreise ihn einmal, zweimal – leichter als eine Umarmung, ein Kuss –, einen Funkenschwarm hinter mir herziehend. Dann ströme ich in die Nacht davon, über die Gärten der Villa Nicolin hinweg und durch die Gitterstäbe des hohen Eisentors immer weiter hinunter zum dunklen Wasser des Sees.
Die Boote am Steg hüpfen und knarzen, als ich dicht über der Wasseroberfläche dahinfliege, den Wind durchschneide, der heult wie etwas Lebendiges und die hohen Uferbäume herumpeitscht. Es ist stockdunkel, aber ich kann trotzdem die Wolken erkennen, die sich schon wieder am Himmel auftürmen – wuchtig, unnatürlich, wie die geblähten Segel eines Geisterschiffs.
Etwas Böses kommt daher . Die Elemente kündigen es an. Ich spüre in jeder Faser meines Wesens, dass die dunklen Mächte nah sind.
Ich muss Nuriel finden, bevor Luc merkt, dass ich Mailand bereits verlassen habe.
Als ich über dem See bin, drehe ich mich um und suche die Umgebung ab. Und plötzlich weiß ich, dass ich diesen Ort schon einmal gesehen habe. Ich habe einst so lebhaft davon geträumt, dass es war, als bewohnten Luc und ich einen einzigen Körper und alles Böse, was er in dieser Nacht angerichtet hat, sei in Wahrheit mein Werk.
Ich erinnere mich an jede Einzelheit: Luc stand kurz davor, Nuriel mit seinem Schwert niederzustrecken, als sie in einem letzten verzweifelten Täuschungsmanöver von ihm wegwirbelte. Ich sehe wieder vor mir, wie Nuriel Luc mit ihrer Finte überraschte. Wie er kostbare Sekunden verlor, bis er umdrehen und ihr nachjagen konnte. Wie zwei Kometen waren sie durch die physische Welt gezischt – Jäger und Gejagte – und hatten Feuer und Verwüstung auf ihrem Weg hinterlassen. Jetzt ist mir auch klar, wie die Hauptstraße von Moltrasio zerstört wurde und all diese Menschen zu Asche verwandelt wurden. Wenn Engel und Dämonen aufeinandertreffen, sind Opfer unvermeidlich.
In meinem Traum hatte ich ein riesiges Anwesen am Ufer erblickt. Ein großes Haus auf einem Hügel, mit einem kleineren Nebengebäude und einem Ufersteg. Jetzt, da ich über dem Wasser schwebe, weiß ich, dass ich die Villa Nicolin gesehen habe, als Nuriel vom Himmel herunterzischte. Wenn Luc in dieser Nacht in Eile war, wenn er Nuriel festhalten und zugleich ihren Rettern eine Falle stellen wollte, gab es nur einen Ort, an dem er sie verstecken konnte – im See selbst.
Ich erhebe mich hoch in die Lüfte und schaue auf die schwarzen Wassermassen hinunter, ohne Angst, ohne Übelkeit, und ich sehe sofort, wo Nuriel festgehalten wird. Tief unten im See schimmert etwas, so schwach, dass es für Menschenaugen nicht wahrnehmbar ist. Obwohl ich substanzlos bin, lässt die Beschaffenheit des Lichts meine Seele erschauern. Es ist göttlich, weiß, aber getrübt, vom schleichenden Grau der Verdammnis. Vom Dämonenlicht befleckt.
Es flackert auf und erlischt, pulsiert im dunklen Wasser des Sees wie ein monströses, schlagendes Herz. Seltsame Wirbel, die nicht von einer natürlichen Strömung stammen, spielen an der Oberfläche.
Ohne Zögern verdichte ich mich, fange an zu kreisen, kanalisiere meine ganze Energie, meine Wut und meine Angst, zu einer mächtigen Waffe. Ich mache mich selbst zum Pfeil, zum Speer und stürze auf das schwarze Wasser hinunter, durchschneide lautlos seine dunkle Oberfläche, ohne auch nur ein Wellenkräuseln zu verursachen.
Während ich in die Tiefe hinuntergleite, höre ich nichts als Schreien, nehme es mit jeder Faser meines Wesens wahr. Es ist die Stimme einer lebenden Seele, die sich in schrecklichen Todesqualen windet.
Ich folge den Schreckenslauten, jage pfeilschnell in die Tiefe, bis die Dunkelheit allmählich weicht, von einem gleißenden Licht verdrängt wird. Es
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