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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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ist, als wäre die Sonne am Grund des Sees gefangen.
    Dann sehe ich einen hohen Felsen, der wie ein Obelisk geformt ist. Eine leuchtende, geflügelte Gestalt mit langem dunklem Lockenhaar ist daran gekettet. Es sind Ketten aus glühendem Feuer, die sich kreuz und quer um ihren zerschundenen, blutenden Körper schlingen. Die ärmellosen Gewänder sind zerfetzt und entweiht und die Haut des Lichtwesens ist mit tiefen Wunden übersät, aus denen unablässig Licht ins Wasser sickert.
    Lautlos lasse ich mich zu Nuriels Füßen nieder. Erzengel brausen normalerweise in Licht und Zorn gehüllt heran, laut wie ein Donnerschlag, wie ein Fanfarenschmettern. Aber die Menschenwelt hat mich Vorsicht und Klugheit gelehrt. Und so halte ich meine mörderische Wut im Zaum, genau wie den Drang, mich in ein flammendes Rachemonster zu verwandeln, und bleibe im Schlamm des Seegrunds verborgen.
    Nuriels ganzer Körper ist starr, ihr Kopf weit in den Nacken geworfen, die Augen sind weiß vor Entsetzen, der Mund ist zu einem endlosen, stummen Schrei verzerrt.
    Mein erster Impuls ist, Nuriel sofort von ihren Fesseln zu befreien, aber ich halte mich zurück. Hier lauert Gefahr, denn dass Nuriel unbewacht zurückgelassen wurde, ist verdächtig. Und die Dämonenzeichen, die ich von oben gesehen habe, sprechen Bände. Wenn man seinen Feind kennt, kann man ihn in gewissem Maß beherrschen: Das habe ich von Luc gelernt. Und es erfüllt mich mit Genugtuung, dass ich seine eigenen Weisheiten nun gegen ihn verwenden kann.
    Nuriel verkrampft sich plötzlich in ihren Ketten. Licht strömt aus ihrer Haut und staut sich als dichte Wolke um sie. Ich schieße fast aus dem Schlamm vor Schreck, weil ich im ersten Moment fürchte, dass ich zu spät gekommen bin und sie vor meinen Augen stirbt. Dass die Energie, aus der sie gemacht ist, sich auflöst, um nie mehr wiederzukehren.
    Aber meine innere Stimme, die meinem Verstand immer um einen Herzschlag voraus ist, wispert: Warte, beobachte. Das ist Dämonenlicht.
    Ich rühre mich nicht und warte ab, welche Form das Licht annehmen wird.
    Nuriels Kopf fällt plötzlich nach vorne, ihr Körper erschlafft in den Feuerketten, ihr Schreien verebbt, weicht einer angstvollen Stille. Das Licht ballt sich rasch zusammen, verwandelt sich in eine geflügelte Männergestalt von so betörender, lichter Schönheit, dass ich erkenne, wer und was diese Kreatur einst war: Remiel, einer der Elohim.
    Er hat Luc wie einen Gott verehrt, gehörte zu Lucs innerstem Kreis, zu den Schönen, Privilegierten, die an Lucs Lippen hingen und jede Verrücktheit beklatschten, die er ersann. Ich muss es wissen, denn ich gehörte ja selbst dazu, und ich erinnere mich gut an Remiel, an seinen Hang, Zwietracht zu säen, wo er nur konnte.
    Remiel betet Luc also immer noch an, und ich sehe, wie sehr ihn das verändert hat. Er ist eher noch schöner geworden, falls das überhaupt möglich ist, schöner und ätherischer mit seiner blassen Haut und seinen silbrigen Augen, dem langen hellen Haar, das wie gesponnenes Silber aussieht. Sein kräftiger Körper ist nackt bis zur Hüfte, und er rollt seine mächtigen Schultern, als ob sie schmerzten. Die schimmernden Flügel auf seinem Rücken ziehen Energiewirbel hinter sich her, eine deutlich getrübte Energie. Dann dreht er sich um, sucht seine Umgebung ab, als spürte er etwas, und ich sehe, dass er … zittert. Ja, seine kräftigen Hände zittern, ganz schwach nur, aber sichtbar, und ich wundere mich darüber, weil ihm die Kälte genauso wenig anhaben kann wie mir.
    An seinem Hals trägt er ein Flammenmal, das wie eine Narbe aussieht. Ich erkenne es, weil ich ein ähnliches Mal an meiner linken Hand trage. Das Mal der Verbannung, die Stelle, an der das Urteil vollzogen wurde. Einer der Acht – wahrscheinlich der Erzengel Michael persönlich – hat vor langer Zeit seine Hand an Remiels Hals gelegt und ihn aus dem Himmel geschleudert. Auf die Erde hinab, wo er seither als Dämon weiterleben muss.
    Da Remiel weit und breit nur Fels, Schlamm und Algen sehen kann, ist er beruhigt, umkreist Nuriel und sagt mit höhnischer Stimme: „Siehst du, sie kommt nicht, um dich zu retten. Luc wird sie schon niedergestreckt haben. Und jetzt kommt Ananel zurück und gibt dir den Rest. Falls du die Strafe überlebst, die er dir zugedacht hat, kehre ich zurück, immer wieder, bis nur noch ein Schrei von dir bleibt.“
    Remiel spricht mit schwerer Zunge, als wäre er betrunken. Dann wirft er sich in die Fluten und

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