Mercy, Band 4: Befreit
meine Nervenbahnen, aber ich bohre meine Finger in seine Schultermuskeln, seinen Rücken, bin unfähig, mich von ihm loszureißen, weil wir magnetisch sind, zwei unvereinbare Energien, die aufeinanderprallen. Ich werde so heiß unter ihm, dass er laut nach Luft schnappt und mich von sich wegstößt. Er muss seine Augen vor dem grellen Licht beschirmen, in das ich gehüllt bin.
Schaudernd lässt er sich aufs Bett zurückfallen und bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Ich höre, wie er aufstöhnt.
„Warum lässt du nicht endlich von mir ab“, sage ich anklagend, „wenn es doch die Hölle ist, mich zu lieben? K’el, Raphael, ja sogar Luc sind der Beweis dafür, dass ich jedem, der mich zu lieben glaubt, ein schreckliches Ende beschere. Ich bin wie der leere Lockruf der Sirene, Ryan, ich bin eine Pest. Ich bin verflucht und werde dich mit mir in den Abgrund ziehen, so wie die anderen. Warum bist du so hartnäckig, warum nur?“
Ryan nimmt die Hände vom Gesicht und schaut mich mit undurchdringlicher Miene an.
„Gib mich auf“, wispere ich, während das Licht in mir und um mich herum verblasst, bis der Glanz wieder erträglich ist. „Du musst ganz auf mich verzichten, damit ich wieder zu Sinnen komme und dich meinerseits von mir stoße. Ich habe kein Herz, Ryan. Ich kann so tun, als ob, ja, ich kann mir sogar eins schaffen, wenn die Umstände es erfordern, aber ich brauche keines. Ich brauche weder Nahrung noch Wasser noch Luft, weder Sonnenlicht noch Schlaf, um am Leben zu bleiben.“
Ich sehe das Entsetzen in seinen Augen, als ich fortfahre: „Ich will dich mehr als alles andere auf der Welt, aber ich kann dir nicht geben, was du willst. In all meinen ‚Leben‘ auf dieser Erde warst du das Einzige, wonach ich die Hand ausgestreckt habe, immer wieder, gegen alle Vernunft, gegen jedes Hindernis. Aber das genügt dir nicht. Wie denn auch?“
Ryan springt plötzlich auf, ohne mich anzusehen, und ich habe zu viel Angst, um ihn zu berühren und den Aufruhr in seinem Geist zu lesen. Ich fürchte mich vor dem, was ich dort sehen würde. Er reißt ein T-Shirt und eine schwarze Boxershorts von der Stuhllehne, dann stürzt er ins Badezimmer und taucht ein paar Sekunden später wieder auf, angezogen und ohne Handtuch.
„Oh, nein, das ist nicht die Hölle“, sagt er und seine Stimme bebt vor Empörung. „Die Hölle ist, wenn du in einem Krankenhauszimmer am Bett eines Mädchens sitzt, in das du dich verliebt hast, auch wenn es noch so freakig und kratzbürstig ist, und das dich eiskalt anlügt, als es endlich aufwacht, und behauptet, dass es dich noch nie gesehen habe. Die Hölle, das war für mich, als du vor meinen Augen gestorben bist, kaum dass ich dich wiedergefunden hatte. Und wenn du glaubst, dass mich nur die Aussicht auf ein bisschen heißen Sex bei dir hält“, eine schwache Röte erscheint auf seinen Wangenknochen, „dann kennst du mich überhaupt nicht.“
Wütend wirft er sich neben mich aufs Bett und kehrt mir den Rücken zu.
„Ich muss schlafen“, knurrt er. „Und du kannst ruhig weiterreden und alles schlechtmachen, was zwischen uns ist, das ist mir egal – aber bitte leise. Ich bin total erledigt.“
Ich rühre mich nicht, sage kein Wort, bis ich sehe, wie die harten Linien seines Körpers im Schlaf erschlaffen. Dann erst schiebe ich mich behutsam neben ihn, schmiege mich an seinen Rücken, lege meine Wange an seinen Nacken und umschlinge ihn mit den Armen, um ihn ganz nah bei mir zu halten, ihn zu beschützen.
Und dann fallen auch mir die Augen zu.
Aber ich schlafe nicht wirklich. Ich denke nach. Es ist ein Bewusstseinszustand, der mit einer gesteigerten Wahrnehmung meiner Umgebung beginnt – Ryan, der tief und regelmäßig neben mir atmet – und sich allmählich fast in einen Zustand der Gnade, in Meditation verwandelt.
Unversehens finde ich mich in den Fluten des Sees wieder. Ananel wogt auf mich zu, und alles fängt von vorne an, als wäre es das erste Mal: sein tödlicher, vergifteter Kuss, das plötzliche Wiedererkennen in seinen Augen. Und im nächsten Moment halte ich einen Flammendolch in meiner linken Hand, den ich ihm in den Hals ramme, ohne eine Sekunde zu zögern. Was hätte ich anderes tun können?
Aber diesmal stirbt Ananel nicht.
Meine Tötungsenergie hat ihn an den Fels genagelt, doch das Licht in seinen grauen Augen verblasst nicht. Stattdessen verändern sich die Augen, ihre Form, ihre Farbe. Die Wimpern werden länger und dichter, dunkelblond statt schwarz,
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