Mercy, Band 4: Befreit
Besseres verdient, ein Messer in die Brust zu rammen, dann würde ich nicht lange überlegen. Der Typ wäre schon tot.“ Sie senkt die Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. „Als Kind erzählen sie dir immer, dass du die andere Wange hinhalten sollst, wenn dir jemand wehtut, dass Rache keine Lösung ist. Aber hier geht es um den Teufel, Mercy. Um Luzifer. Und wenn du einen Freund vor ihm rettest, kann das doch nicht falsch sein, oder?“
Zögernd nehme ich die Karte. StA Global Logistics steht am oberen Rand und darunter ist ein Logo aufgedruckt: eine Galeone unter vollen Segeln über zwei gekreuzten Schlüsseln. Nur eine einzige Telefonnummer steht auf der Karte.
„Das ist die Familien-Hotline“, erklärt Bianca. „Für alle dringenden Angelegenheiten, zum Beispiel wenn wir einen Lover, einen Oldtimer-Wagen oder einen Karton voll Schmuggelware für den eigenen Bedarf von A nach B schaffen wollen. Das soll jetzt nicht so klingen, als ob ich das unbedingt gutheiße, aber so läuft es. Grenzen sind durchlässig und alle Grenzbeamten können geschmiert werden. Also noch mal: Ich sorge dafür, dass du nach Paris kommst, und die Karte hier ist ein Freibrief, der dich dort wieder wegbringt, falls es nötig sein sollte. Du sagst einfach, wo und wann, und schon ist es geregelt – wie durch Zauberei.“ Sie blinzelt ein paarmal heftig und ihre Augen werden wieder feucht. „Das Codewort lautet Crespigny19A . Das ist der Name von Félix’ Lieblingshund und die Nummer von unserem New Yorker Apartment in der Upper East Side. Lächerlich einfach zu knacken, klar, aber ich hab’s noch nicht fertiggebracht, das Codewort zu ändern. Muss ich demnächst mal machen.“
Ich gebe Bianca die Karte zurück und sie starrt betroffen darauf. „Also machst du es doch nicht?“, fragt sie leise. „Du fliegst nicht nach Paris?“
„Mercy?“ Ryan packt mich fester und schaut mir ernst in die Augen.
„Die Finsternis, in der Nuriel jetzt herumirrt“, wispere ich, „das ist Paris für mich. Mir war so elend und ich war so verzweifelt damals, obwohl es nichts im Vergleich zu den Qualen war, die Nuriel erlitten hat. Aber trotzdem, ich war an meinem absoluten Tiefpunkt angekommen. Ich glaube nicht, dass ich je wieder so allein und einsam, so gottverlassen sein werde wie damals in Paris.“
Bianca beugt sich vor, als wollte sie mich trösten, und ich weiche vor ihr zurück, schmiege mich an Ryans warmen, tröstlichen Körper.
„Ich brauche deine Karte nicht“, sage ich schnell und Biancas Augen werden dunkel vor Enttäuschung. „Weil ich mir die Nummer und das magische Codewort bereits eingeprägt habe. Ich werde sie nicht vergessen, nie mehr. Du kannst die Karte behalten.“
Bianca richtet sich auf. „Also machst du es?“
In ihrem Kopf fängt es bereits an zu rattern, und sie überlegt, was sie alles tun und sagen muss, um die Magie in Gang zu setzen.
Ich nicke erschöpft in Ryans schützenden Armen. „Es ist das Mindeste, was ich für Selaphiel tun kann, der Erbarmen mit dem Monster hatte, das ich damals war. Und erst recht für Nuriel, die all die Jahre über mich gewacht hat. Sie haben es nicht verdient, gefoltert zu werden, und ihr Mut verlangt, dass ich handle. Die Kreaturen, die Selaphiel bewachen, wurden ins Dunkel hinabgezogen und dort müssen sie bleiben oder sterben. Es gibt keine Unschuldigen unter ihnen. Lucs Dämonen haben diese Welt schon genug in eine Wüste verwandelt. Wenn es also mir zufällt – die nie eine Aufgabe, nie einen Zweck hatte –, die Drachen zu erschlagen, die das Höllentor bewachen, um Selaphiel zu retten, dann sei es so.“
Ich schaue zu Ryan auf. „Aber es ist nicht dein Kampf, und du musst das nicht machen. Nimm einfach Biancas Angebot an und flieg nach Hause.“
„Mitgefangen, mitgehangen“, flüstert Ryan und streicht mir das Haar aus der Stirn. „In Gefahr bin ich sowieso, ob mit dir oder ohne dich. Ich komme mit, ob du willst oder nicht.“
Nachdem alle Anrufe getätigt, alle Informationen ausgetauscht sind, kehrt Ruhe im Haus ein.
Bis eben war Bianca noch im Esszimmer herumgerannt und hatte wie wild mit Telefon, Laptop und Scanner hantiert, während Ryan den Inhalt ihres riesigen Kühlschranks geplündert und mit vollem Mund auf ihre vielen Fragen geantwortet hatte.
Ich selbst konnte zu ihrem Gespräch, in dem es um Genehmigungen, Freigaben, Flugpläne, Catering-Bedarf und Bodenverkehrsdienste ging, nicht viel beitragen. Also irrte ich durch die vornehmen, teuer
Weitere Kostenlose Bücher