Mercy, Band 4: Befreit
soll er das wissen?“, schnaubt Ryan, der immer noch nicht wirklich an meinen Traum glaubt. „Das gibt’s doch nicht. Du tust ja so, als ob er ’ne Art himmlisches GPS für dich hätte.“
„Aber er hat mich doch auch in Mailand gefunden, als ich Irina war“, heule ich. „Ich versteh ja selber nicht, wie er nach der langen Zeit herausfinden konnte, wer und wo ich war, nachdem er mich vorher nie gefunden hat.“
Ryan schüttelt wenig überzeugt den Kopf und ich packe seinen Arm, spüre das kühle Leder unter meiner brennenden Hand.
„Zwischen Luc und mir existiert seit jeher eine merkwürdige Verbindung. Vielleicht weil ich von ihm gezeichnet bin, ich weiß nicht. Ich habe es nie herausgefunden. Aber irgendwie hatte er immer Zugang zu meinen Gedanken, wenn ich geschlafen habe. Er konnte mich über jede Entfernung hinweg erreichen, und wir konnten miteinander reden, als stünden wir uns Auge in Auge gegenüber, so wie du und ich jetzt. Aber trotz dieser unheimlichen Verbindung hat er mich nie gefunden, jedenfalls bis jetzt nicht. Wenn er immer noch in meinen Kopf kommen kann, wenn meine Gedanken nicht sicher vor ihm sind, dann müssen wir sofort aufbrechen. Wir müssen Selaphiel finden, bevor Luc dahinterkommt, was wir vorhaben. Und je länger wir hier verweilen, desto mehr bringen wir Bianca in Gefahr. Zum Glück hat er mich nicht in der Villa Nicolin gesehen, sondern im See. Soll er ruhig glauben, dass ich noch dort bin, während wir in Wahrheit bereits nach … Paris geflüchtet sind.“ Ich schaudere, als ich das Wort ausspreche. „Wir müssen los. Sofort.“
Ryan nimmt unseren Rucksack hoch, erkennt endlich die Gefahr, in der wir schweben. Ich sehe ihm an, dass er genau weiß, wozu der Teufel fähig ist. Ryan lebt in dieser Welt. Und da der Teufel diese Erde geschaffen hat, mehr als jeder andere, braucht man einen Menschensohn wohl kaum daran zu erinnern, wozu Luzifer fähig ist. Jedem Gedanken, jeder Tat, jedem Atemzug würde der Teufel sein Siegel aufdrücken, wenn er könnte.
Ryan schaut aus dem Fenster, aber für sterbliche Augen ist es draußen immer noch stockdunkel. „Wie spät ist es überhaupt?“
„Fünf Uhr vierzehn.“
„Dann ist es ja bald so weit“, sagt er. „Lass uns draußen auf den Wagen warten.“
Bianca öffnet ihre Schlafzimmertür, bevor wir dort ankommen. Sie trägt einen eleganten Männerpyjama aus austernfarbener Seide mit marineblauen Nähten und ihre Augen sind noch ganz schlaftrunken.
„Ihr seid zu früh dran“, sagt sie ohne Umschweife und schaut erst mich an, dann Ryan. „Ich hole euch, wenn der Wagen vorfährt. Am besten, ihr schlaft noch ein bisschen.“
„So wie du?“, frage ich leise.
„Ich schlafe sowieso nie gut in letzter Zeit“, murmelt Bianca achselzuckend. „Schlechte Träume.“
„Die hab ich auch“, erwidere ich so beiläufig und ruhig wie möglich. „Und der letzte hat mich davon überzeugt, dass du deine Siebensachen packen und ins Haupthaus umziehen musst. Jetzt sofort. Oder nein, am besten kommt ihr gleich mit uns mit, du und Clara und Tomaso und alle anderen, die hier arbeiten. Ist nur so ein Bauchgefühl von mir.“
Bianca richtet ihren Blick nachdenklich auf Ryan und der sagt ruhig: „Tu, was sie sagt. Auf ihre Bauchgefühle kann man sich hundertprozentig verlassen.“
„Mein Gott“, murmelt Bianca entsetzt. „Was in aller Welt hast du gesehen?“
„Den Teufel“, erwidere ich, und ihr Gesicht wird blass vor Schreck. „Wenn er herausfindet, dass Nuriel verschwunden ist, weiß ich nicht, was du dort draußen auf dem Wasser zu sehen bekommst. Ruf deine Nachbarn an und organisiere eine Evakuierung, die Leute sollen weiter in die Berge hinauf oder am besten verlasst ihr gleich die Gegend.“
Bianca stürzt durch den Flur in das Zimmer mit dem Telefon. „Schicken Sie den Wagen jetzt gleich. Zur dépendance “, befiehlt sie in schnellem Italienisch. „Sie müssen sofort los. Ja. Ich weiß, dass es zu früh ist, aber sie können doch am Hangar warten. Bringen Sie alle Männer und ihre Familien ins Haupthaus. Der See sieht aus, als ob er ansteige. Und rufen Sie die Villa Cavallino und die Villa Pironi an. Und dann müssen Sie die Notdienste alarmieren. Mit einem anonymen Anruf, den man nicht zurückverfolgen kann. Selbe Information. Der See steigt an, irgendetwas deutet darauf hin, also weg vom Seeufer. Ich weiß nicht … Ja, sicher klingt das verrückt. Aber machen Sie es trotzdem, okay?“
Dann taucht sie wieder im
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