Mercy, Band 4: Befreit
sein? Er ist ein Sterblicher!“
Ryan hebt den Kopf. „Na und wenn schon?“, sagt er herausfordernd. „Ich liebe sie, wir sind zusammen und wir sind gekommen, um Selaphiel zu retten.“
Jehudiels Augen weiten sich vor Staunen. Dann dreht er sich um und sucht die Höhle ab. „Hier ist nicht der richtige Ort, um von Liebe zu reden. Nekael und Turael – das sind die beiden, die uns in den Stein gebannt haben – werden bald zurückkehren. Wir sind der Hölle näher, als du glaubst. Lucs Handlanger wandeln ständig zwischen der glühenden Festung, die ihnen Leben einhaucht, und allen Friedhöfen und Beinhäusern von Paris hin und her. Und aus den Überresten, die sie dort finden, erschaffen sie Monster in großer Zahl, genug, um alle Macht an sich zu reißen.“ Mit einem schnellen Blick zu mir fährt er fort: „Seit Selaphiel hier gefangen ist, haben sie die Heerscharen der Verdammnis auf ihn gehetzt, nur zum Vergnügen. Er wurde unablässig geschunden und zerbrochen, bis ihm fast nicht mehr zu helfen war, und dann haben sie ihn ‚geheilt‘, um weiter ihr schändliches Spiel mit ihm zu treiben. Am Ende, wenn er wieder stark genug gewesen wäre, um mit mir zu kämpfen, hätten sie uns aufeinandergehetzt. Wir müssen fort, ehe sie zurückkommen.“
Nekael: ein Name, den ich jahrtausendelang nicht gehört habe. Auch Nekael hat Luc geliebt und ist ihm gefolgt, und dabei erschien sie mir immer so lieblich, frisch und zart wie eine Wildblume – zumindest äußerlich. Ihr Haar hatte die Farbe von rotem Weinlaub, ihre Augen waren kornblumenblau, und sie besaß die Fähigkeit, andere mit ihrem feinen Spott mitten ins Herz zu treffen.
Turael war einfach einer von Lucs vielen Anhängern – mit dunklem Haar, dunklen Augen, schön und makellos, wie alle in diesem Kreis. Leicht verführbar, ein Schmeichler ohne Rückgrat – mich hat er nie interessiert.
„Sie sind nicht, wie du sie in Erinnerung hast“, sagt Jehudiel rau. „Sie sind verdorben, härter als die Figuren, die sie aus den zertrümmerten Grabsteinen der Toten schaffen. Es sind Engel der Wut. Sie foltern und peinigen dich ohne Skrupel, ohne die geringsten Gewissensbisse.“
Ich bücke mich und berühre Selaphiels vollkommenes Gesicht. Er liegt mit geschlossenen Augen da, ein schöner junger Mann, der auf dem Boden schläft. Sein Körper ist unversehrt, makellos, nicht eine Wunde ist zu sehen, aber die Energie, die er ausstrahlt, ist erschreckend und unheimlich. Und während wir uns zu dritt über ihn beugen, flirren seine Umrisse, und seine Flügel zersetzen sich vor unseren Augen, verschwinden, als hätte er nicht einmal die Kraft, seine eigene Gestalt aufrecht zu halten.
Ryan zieht die Luft ein, als Selaphiel plötzlich aufleuchtet, immer greller. Ein Bild von K’el kommt mir in den Sinn. Ich sehe, wie er durch Lucs Hand gestorben ist. Auch seine Gestalt war immer heißer und heller geworden, strahlender als die Sonne, ehe seine Energie zerbarst und ins Universum zurückgesaugt wurde, um nie mehr wiederzukehren. Das Gleiche geschieht jetzt mit Selaphiel.
Jehudiels Stimme ist rau vor Schmerz, dabei zeigt er sonst keinerlei Gefühlsregung. „Ich muss ihn nach Hause bringen. Sein Körper mag unversehrt erscheinen, aber sein Geist, seine Seele … wer weiß …“
„Mercy!“, schreit Ryan plötzlich, und seine Stimme klingt so fiebrig, so von Grauen geschüttelt, dass ich im ersten Moment denke, er fleht um Gnade, statt meinen Namen zu rufen. „Das Wasser!“, brüllt er. „Schau aufs Wasser!“
Jehudiel und ich fahren herum und erstarren. Ein Heer von gelben Totenschädeln erhebt sich aus den brennenden Fluten, eingesunkene, fleischlose Gesichter auf grotesk zusammengeflickten Skeletten. Die einen haben vier Beine statt zwei, die anderen Knochententakel wie giftige Skorpionschwänze statt menschlicher Gliedmaßen. Und alle kommen auf uns zu, in Feuerschein gehüllt, von Flammen durchglüht. Die Energie dieser Knochenarmee hat nichts Menschliches. Es ist die niedrigste Stufe, die Leben nur nachäfft. Eine schreckliche Verhöhnung.
An der Öffnung im Fels auf der anderen Seite der Höhle sehe ich etwas glänzen. Es bewegt sich so schnell, dass es zu einem Wirbel verschwimmt, und die Energie, die ich auffange, ist disharmonisch, nicht menschlich, aber mächtig.
„Sie kommt“, knurrt Jehudiel und schwingt seine Peitsche. „Schaff die beiden hier raus, Mercy. Der Sterbliche hätte niemals herkommen dürfen. So Gott will, werde ich dich
Weitere Kostenlose Bücher