Mercy, Band 4: Befreit
zusammenballt, an der gerade noch die Statue stand. Eine große, leuchtende, geflügelte Männergestalt wächst daraus empor und stürzt lautlos nach vorne.
Dann kracht Jehudiel in den Flammensee, geht darin unter, und ich taste mit den Händen nach ihm, kann ihn aber nicht finden. Verzweifelt stolpere ich herum und wühle glitzernde Wasserschwälle auf, die den Feuerschein reflektieren. Unter meinen Füßen verrutschen die Knochen und verkeilen sich ineinander.
„Mercy!“, schreit Ryan mit tiefer Ehrfurcht in der Stimme. „Da drüben!“
Ich drehe mich um, folge mit den Augen seinem ausgestreckten Finger, und da sehe ich Jehudiel, der zu Füßen des zweiten Engels aus dem Wasser torkelt. Eine Gischt aus Flammen prallt an Jehudiels mächtiger Gestalt ab, stürzt zwischen den Falten seines leuchtenden Gewandes und an seinen Flügeln herunter. Die Federspitzen sind teilweise verbogen und zerfetzt.
Jetzt taucht Jehudiel seine Hand in den Stein und donnert mit hallender Stimme, so wie ich zuvor: „Libera eum!“
Im nächsten Moment bricht auch die zweite Statue auseinander und es hagelt Steinsplitter über den Flammensee.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fügt sich Selaphiels bleich schimmernde Gestalt zusammen. Er stürzt nach vorne, genau wie Jehudiel, schlägt im brennenden Wasser auf und geht darin unter. Aber wir warten vergeblich, dass er wieder auftaucht.
Jehudiel wirbelt herum, wühlt in den öligen, brennenden Fluten, die von einer unsichtbaren Strömung bewegt werden. Als er kurz aufblickt, erstarre ich vor Schreck. Die Flammen spiegeln sich in seiner dunklen Iris, sodass es einen Moment lang so aussieht, als würde er von innen brennen. Eine Peitsche erscheint in seiner Hand, und er setzt zum Sprung an wie ein Löwe. Dann stürzt er sich auf mich und brüllt so laut, dass die Höhlenwände wackeln. Er hält mich für einen Menschen , denke ich ungläubig, gelähmt vor Entsetzen. Oder einen Dämon. Meine Tarnung muss perfekt sein. Er weiß nicht, wer ich bin.
Als Jehudiel schon die Peitsche über mir schwingt, lasse ich die Menschengestalt, die ich so mühsam aufrechterhalten habe, einen Augenblick zu Dunst verschwimmen, damit er mein wahres Ich erkennt.
Jehudiel hält abrupt inne, als er sieht, wie ich mich zuerst in Dunst und dann wieder in meine Menschengestalt verwandle. Die Waffe verschwindet lautlos in seiner Hand.
„Wir müssen ihn finden, Mercy!“, fleht er. „Bevor jede Hilfe für ihn zu spät kommt!“
Unverzüglich tauchen wir wieder in den brennenden See. Ich spüre, wie Jehudiels zerfetzte Flügel mein Gesicht streifen, während wir in die luftlose, brodelnde Tiefe zischen, um unseren gefallenen Bruder zu retten. Um uns ist nichts als Finsternis, Schmutz und Lärm und Knochen, in einen düsteren Feuerschein gehüllt.
Als ich wieder hochschieße, sehe ich, wie Ryan durch die Flammen am Seeufer hechtet und eine riesige, schimmernde Gestalt mit verfilzten, zerfetzten Flügeln ins Trockene hinaufzieht.
Jehudiel taucht am anderen Ende der Höhle auf, und ehe er wieder ins Wasser eintauchen kann, rufe ich ihm zu: „Schau zu dem Sterblichen hinüber!“, denn Ryans Name sagt ihm nichts. „Der Sterbliche hat ihn gefunden.“
Jehudiel dreht sich verwundert um. Im Nu hat er den See durchquert und ragt über Ryan auf wie eine Albtraumkreatur. Das Ganze geht so schnell, dass ich nicht eingreifen kann. Mit erhobenen Händen weicht Ryan zurück und lässt Selaphiels reglosen Körper am Ufer zurück. Dann steht er da, den Kopf zurückgeworfen und starrt Jehudiel an, der drohend auf ihn hinunterblickt.
„Wer bist du?“, brüllt Jehudiel. „Sprich!“ Und die Peitsche in seiner rechten Hand zuckt ungeduldig.
Ich berühre Jehudiel mit meiner kleinen Menschenhand, aber er dreht sich nicht zu mir um, sondern starrt weiter Ryan an, als wollte er ihn mit seinem Blick in Stein verwandeln.
„Bruder“, sage ich leise. „Er ist mit mir zusammen.“
Jehudiel fährt herum, sodass sein dunkelblondes Haar sich einen Moment in den Flügelfedern verfängt. Ungläubig schaut er mich an.
Ich trete aus dem Wasser und gehe um Selaphiel herum, der immer noch reglos auf dem Steinboden liegt. Dann nehme ich Ryans Hand in meine. „Er ist mit mir zusammen“, wiederhole ich, diesmal lauter und bestimmter. „Sein Name ist Ryan und er ist ein guter Mensch. Azrael würde ihn jederzeit zu sich holen – er hat es bereits versucht.“
Jehudiel schaut Ryan bestürzt an. „Aber wie kann er mit dir zusammen
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