Mercy, Band 4: Befreit
einen harten, abweisenden Gesichtsausdruck. Auf dem Sockel darunter stehen die Worte: In flagella paratus sum . Die Geißelung ist mein Lohn. Der Marmorengel hält eine dreischwänzige Peitsche in seiner langen, feingliedrigen Hand und ich erkenne ihn sofort. Die Peitsche war immer seine Lieblingswaffe. Niemand konnte sie besser schwingen als er.
„Jehudiel“, wispere ich entsetzt.
Ich wende meinen Blick mit wachsendem Grauen der anderen Engelsgestalt zu, die in der einen Hand ein offenes Buch hält und in der anderen eine Kugel – den Erdball. Ihr Blick ist versonnen, das von schulterlangen Locken eingerahmte Gesicht wirkt freundlich und gütig. Im Leben wären die Locken goldblond. Eine Krone aus stilisierten Sternen schmückt seine Stirn.
„Selaphiel“, murmle ich betroffen.
Die Inschrift auf dem Sockel lautet: Bellator Deus . Gotteskrieger.
Die Worte sind der blanke Hohn, denn Selaphiel hat nichts Kriegerisches. Er ist der Inbegriff der Friedfertigkeit, der Versenkung, geheimnisvoll wie das Universum selbst, über das er nachsinnt.
Jehudiel ist nie in Mailand angekommen, weil er hier abgefangen wurde, als er Selaphiel befreien wollte. Und jetzt sind die beiden in diese Marmorfiguren gebannt – lichte Energiewesen, in schweren, klobigen Stein gegossen. Es ist ein Skandal, eine gezielte Provokation, eine Beleidigung.
„Wie …“, fängt Ryan an, aber ich lege meine Hände beruhigend auf seine Schultern, beschwöre ihn mit leiser Stimme, hier zu warten.
Dann gehe ich in den unheimlichen See hinein. Sofort schlagen Flammen aus dem Wasser ringsum und entzünden mit einem ohrenbetäubenden Fauchen die ganze Oberfläche des Sees. Die Flammen sind natürlich ein Trick – ein Special Effect, um die Sterblichen fernzuhalten, falls einer von ihnen verwegen genug sein sollte, in diese Kammer einzudringen, in der zwei himmlische Wesen vor aller Augen gefangen gehalten werden.
Ich drehe mich zu Ryan um, dessen Haut in einem gespenstischen Rot schimmert. Er starrt mich hilflos an.
„Sei vorsichtig“, formt er mit den Lippen. „Ich liebe dich.“
Ich nicke und werfe ihm ein schiefes Lächeln zu.
Dann drehe ich mich wieder um und betrachte die steinernen Engel, die ihre Gesichter voneinander abgewandt haben, als könnten sie den Anblick des anderen nicht ertragen. Die rauchlosen Flammen züngeln an meinen Stiefeln, meinen Hosenbeinen hoch, aber sie können mir nichts anhaben, weil meine eigene Energie ihnen ebenbürtig ist.
Langsam gehe ich durch das brennende Wasser, das mir bald bis zur Hüfte reicht, und unter meinen Füßen knirschen die zersplitterten Knochen von unzähligen Verstorbenen. Obwohl es hier von Dämonenzeichen wimmelt, sind nirgends Dämonen in Sicht. Das ist seltsam. Vielleicht eine raffinierte Falle? Ich bleibe auf der Hut, aber nichts springt mich kreischend aus der Dunkelheit über mir oder von unten aus dem Wasser an.
Die letzten Meter bis zu der Jehudiel-Statue lege ich im Laufschritt zurück, schlitternd und stolpernd, dann berühre ich den Stein, der nicht kalt ist, sondern ganz warm unter meinen Fingern. Und diese Wärme bestätigt meine Vermutung: dass tatsächlich ein Feuerwesen in diesem Steinblock gefangen ist.
Ich springe auf den Sockel und greife mechanisch, ohne zu überlegen, in den Stein. Ich spüre, wie meine eigene Energie hineinströmt und die harte Kristallstruktur durchdringt, um nach einem Riss, einem losen Ende, einem Zeichen zu fahnden. Jehudiel selbst entzieht sich mir, aber ich kann seine Signatur, sein Muster in dem Stein erkennen. Denn seine Hand schrieb sich einst in meine Seele ein, so wie ich jetzt die seine suche, und von nun an werde ich ihn immer wiedererkennen.
„Wo bist du?“, knurre ich, halb in den Stein eingesunken. Einen Augenblick spüre ich etwas, verliere es aber wieder.
Und dann rührt sich etwas im Stein. Ich spüre ihn dort, zusammengerollt wie eine Schlange, in die jetzt Bewegung kommt. Aber etwas hält ihn noch, und ich wage es nicht, mich ganz dem Stein zu überlassen, aus Angst, dass ich dann auch verloren wäre.
In meiner Verzweiflung rufe ich mit weithin hallender Stimme, einer Stimme wie Glockengeläut: „Libera eum!“ Befreie ihn!
Ein gewaltiges Beben erschüttert den unterirdischen See. Die Steinstatue explodiert, zerbirst in tausend Splitter und die höhnische Inschrift wird vollständig ausgelöscht. Ich falle ins Wasser zurück, beschirme automatisch mein Gesicht vor dem Nebel, der sich jetzt rasch an der Stelle
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