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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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ich in die Knie und zwänge mich durch die Öffnung, ohne zurückzublicken.
    Als ich mich aufrichte, finde ich mich in einem langen, engen Gang wieder. Als Erstes fallen mir die unregelmäßig gesprayten Linien an den Wänden ins Auge, eine schwarze auf der einen, eine grüne auf der anderen Seite des Ganges. Die Farbe ist frisch. Ich rieche sie noch, scharf und ätzend. Die beiden Höhlengänger haben offenbar im Gehen die Wände beschmiert.
    Hinter mir poltert es und sofort lasse ich meine Umrisse zu Dunst verschwimmen. Aber als ich mich umdrehe, erkenne ich den Rucksack, der durch das Bohrloch fliegt, gefolgt von Ryan, der mit vorgestreckten Händen hinterherrobbt. Ich verdichte mich blitzschnell, nehme wieder die menschliche Gestalt an, die Ryan vertraut ist, und schaue mit meinen leuchtend grünen Augen zu, wie er sich aufrichtet. Ich weiß, dass er mich hier in dem stockdunklen Gang nicht sehen kann.
    „Wehe, du verpfeifst mich und erzählst überall herum, dass ich die Nerven verloren habe, Angel Girl“, wispert er und klopft sich verlegen den Staub ab, bevor er auf dem Boden nach seinem Rucksack tastet.
    Ich blicke lächelnd auf meine Hände hinunter, die jetzt vor Freude leuchten müssten – vor Glück darüber, dass er sich für mich entschieden hat, anstatt Reißaus zu nehmen. Aber meine Hände bleiben glanzlos, verraten mich nicht in der Dunkelheit. Ryan angelt seine Taschenlampe aus dem Rucksack hervor, knipst sie an und richtet seine dunklen Augen erst auf mich, dann auf die Farbe an den Wänden.
    Mit Ryan dicht hinter mir folge ich der schwarzen und grünen Linie, und plötzlich stehen wir knöcheltief in Knochensplittern. Eine alte Erinnerung blitzt in mir auf und es überläuft mich kalt: Ich erwache auf einem steinernen Altar in einer Grabkammer voller Gebeine und die Acht schauen auf mich herunter.
    Es wird immer kälter, je weiter wir gehen, und wir versinken immer tiefer in Knochen. Ryan leuchtet die Umgebung mit seiner Taschenlampe ab und seine Hände zittern heftig.
    „Das gefällt mir nicht“, murrt er, als der Lichtkegel die Augenhöhlen eines zertrümmerten Schädels erfasst, die uns leblos anstarren. „Ganz und gar nicht, Mann.“
    Wir kommen in einen weiteren langen Tunnel und immer noch sind die Wände mit grüner und schwarzer Farbe markiert. Die zittrigen Linien verraten die wachsende Angst der beiden Jungen.
    Als wir an die nächste Gabelung kommen, nehmen wir den Gang, der mit Sprayfarbe gekennzeichnet ist. Dann aber bricht die Markierung plötzlich ab.
    In der Felswand vor uns klaffen drei Löcher, und während das linke und das mittlere ins Nirgendwo zu führen scheinen, nehme ich im rechten Gang ein schwaches Leuchten wahr, das sich am unteren Ende der Wand entlangzieht, als wäre hier etwas Verwundetes vorbeigestreift, und zwar erst kürzlich.
    Ich sehe gebrochene Flügel vor mir, die Licht – wie Blut – verloren haben.
    Selbst Ryan erkennt die verschmierte leuchtende Linie. Seine Angst steigert sich ins Grenzenlose und ich kann sie nicht ausblenden, sosehr ich mich anstrenge, weil ich sie selber spüre.
    Wir folgen der seltsamen Leuchtspur gut einen Kilometer weit. Die beiden Höhlengänger müssen hier durchgekommen sein, denn wir finden zuerst eine Spraydose mit grüner Farbe und kurz darauf die schwarze Spraydose, die auf einem Felsvorsprung neben einem schmalen Durchgang zurückgelassen wurde.
    Die Öffnung ist gerade breit und hoch genug für mich, und ich höre Ryan hinter mir grunzen, als er sich duckt, um sich durchzuzwängen. Vor uns liegt eine riesige, hohe Höhle, die ganz mit schlammigem grauem Wasser gefüllt ist. Auf der gegenüberliegenden Seite führt eine zweite Öffnung ins Dunkel, aber was dazwischenliegt, lässt mich schaudern.
    Kein Wunder, dass die beiden Jungen gerannt sind, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Ich würde auch davonlaufen, wenn ich könnte. Aber das hier ist der Ort, den ich gesucht habe.
    Aus dem großen unterirdischen See ragen zwei steinerne Statuen wie Grabmale auf. Die Sockel, auf denen sie stehen, sind etwa zehn Meter voneinander entfernt und dazwischen strudelt das graue Wasser. Beide Gestalten sind männlich, makellos, über zwei Meter hoch und aus blendend weißem Stein gemeißelt. Jedes Federchen, jede Gewandfalte wirkt so lebensecht, als könnten die beiden Figuren im nächsten Moment aus ihrer Erstarrung erwachen und auffliegen.
    Die linke Gestalt hat langes, welliges Haar, das ihr auf die Schultern fällt, und

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