Mercy, Band 4: Befreit
finden. Geh.“
Die schaurige Knochenarmee strömt jetzt auf die enge steinerne Landzunge zu, auf der wir stehen, und Jehudiel zertrümmert mit gewaltigen Peitschenhieben die anrückenden Höllenkreaturen, sodass die Knochen in alle Richtungen fliegen.
Aber es kommen immer mehr – eine Albtraumvision, die sich unaufhaltsam aus dem See erhebt. Hässliche Ungetüme tauchen am gegenüberliegenden Ufer aus der Dunkelheit auf und gleiten zielstrebig ins Wasser.
Ryan und ich werfen uns einen entsetzten Blick zu, dann fasst er Selaphiel unter den Armen, während ich seinen restlichen Körper hochstemme. So stolpern wir vorwärts, zerren und schieben ihn ungeschickt durch den engen Spalt im Fels.
„Er ist so groß und wiegt fast nichts“, schreit Ryan ungläubig. „Wie kann das sein?“
Weil er rückwärtsgeht, stolpert er über etwas und fällt fast um, aber irgendwie fängt er sich und wir folgen der grünen und schwarzen Linie, der verwischten Leuchtspur am Boden in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Selaphiels Gestalt leuchtet immer stärker unter unseren Händen, sodass die Tunnelwände ringsum in einem hellen Licht erstrahlen.
Endlich erreichen wir die Knochengrube, die Ryan das Gruseln lehrte, aber diesmal scheinen die Knochen lebendig zu sein. Ryan dreht fast durch. Sein Gesicht ist schweißüberströmt und jeder Muskel seines athletischen Körpers ist auf Flucht gepolt.
Der Gang steigt immer weiter an, bis der Betonriegel mit dem mannshohen Loch vor uns auftaucht.
„Was machen wir jetzt?“, fragt Ryan wimmernd. „Wir kriegen ihn doch nie da durch. Das ist unmöglich.“
Über mir strudelt eine dichte Rauchschlange hinweg, dann eine zweite. Selaphiel reißt die Augen auf, als die zweite Rauchschlange auf die Betonwand hoch über unseren Köpfen trifft und abrupt verschwindet. Er richtet seinen Blick auf meine Menschengestalt, ohne mich zu erkennen. Die Freude, die im ersten Moment in mir aufsteigt, erlischt sofort wieder: Selaphiels Augen – einst von einem kristallklaren Himmelblau – sind eingesunken, trübe und schmerzerfüllt.
„Selaphiel“, hauche ich kummervoll.
Ryan schaut auf das Wesen in seinen Armen hinunter und zuckt heftig zusammen, als er sieht, dass Selaphiel wieder zu sich gekommen ist. Selaphiels Blick wandert langsam über Ryans Gesicht. Er spricht nicht, kämpft nicht.
Als wir ihn behutsam an die Wand lehnen, dringt ein fernes Rumpeln an unser Ohr, das immer lauter wird und herandonnert wie ein einfahrender Zug. Der Stein unter unseren Füßen bäumt sich auf, flirrt und verschwimmt, ein beißender Staub erfüllt die Luft, und Ryan und ich werden auf den Boden geschleudert.
„Der Fels!“, schreie ich entsetzt, denn ich spüre, wie er unter meinen Fingern in Bewegung gerät. „Das Gewölbe stürzt ein!“
Selaphiel erglüht jetzt in einem gleißenden Licht. Ich stemme mich hoch und kauere mich vor ihn, lege meine Hände auf sein Gesicht, damit er einen Augenblick mein wahres Ich erkennt. Als ich mich kurz verwandle, um sofort wieder meine Menschengestalt anzunehmen, weiten sich seine blauen Augen und er öffnet den Mund, als wollte er sprechen. Aber es kommen keine Worte heraus.
„Es gibt einen Weg nach draußen!“, schreie ich über den Lärm hinweg und zeige auf die Öffnung im Beton. „Er ist ganz nahe, und dieser Sterbliche – er heißt Ryan – bringt dich an die Oberfläche, ins Licht.“ Ich deute auf Ryan, der neben mir am Boden liegt und Selaphiel und mich mit aufgerissenen Augen anstarrt. „Aber du musst eine letzte Aufgabe erfüllen, Bruder, du musst dich verwandeln, wie ich es getan habe. Verstehst du, worum ich dich bitte?“
Statt einer Antwort schließt Selaphiel die Augen, fällt in sich zusammen und verschwimmt. Eine Sekunde lang schimmert der Fels durch ihn hindurch.
„Nein, halt!“, stoße ich heftig hervor. „Mach das ja nicht! Du darfst nicht aufgeben! Darfst nicht gehen! Du wirst noch gebraucht!“
Ich packe ihn und ziehe ihn an mich, wiege ihn in meinen Armen, lasse ihn den Schrecken fühlen, der mich erfasst, meine Angst um ihn, um Ryan, um uns alle. Meine Worte gehen im Lärm der Steinlawine unter, aber Selaphiel hört mich über meine Haut, wenn ich zu ihm spreche.
„Du darfst nicht gehen, Selaphiel, ich flehe dich an! Damit sich nicht bewahrheitet, was alle sagen – dass ich immer nur Unheil über alle bringe, die mich lieben. Verwandle dich, wenn du leben willst. Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir dich retten
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