Mercy, Band 4: Befreit
doch selber weggeschickt habe.
Ich wende mich ab und sehe Jehudiel und Nekael in wilder Umklammerung. Die beiden könnten Liebende sein, oder Tanzende, wäre Jehudiels Körperhaltung nicht so abweisend und starr, denn Nekael hat ihre Arme um seinen Hals geschlungen, schmiegt ihren Kopf an sein Gesicht und wirbelt ihn lachend, übermütig herum. Ihr Gewand ist lichtdurchflutet, aber zugleich zerfranst wie ein mottenzerfressenes Leichentuch. Als sie Jehudiel aufs Neue herumschleudert und mir den Rücken zukehrt, tritt ihr Flammenmal zutage, lodert unübersehbar zwischen ihren Schulterblättern.
Wieder wirbelt sie herum und jetzt blickt sie mich über seine Schulter hinweg an. Ich sehe schaudernd die dunklen Zeichen, die sich über ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Arme und Hände winden. Ihr Haar, ihre ganze Gestalt knistert, vibriert vor dunkler Energie, und das fahle Licht der Verdammnis verleiht ihren kornblumenblauen Augen – das Einzige, was ich an ihr wiedererkenne – einen irren, bestialischen Ausdruck. Sie starrt mich an, öffnet ihren Mund zu einem bösen Lächeln, und ich weiche entsetzt vor ihren Zähnen zurück sind, die spitz wie Raubtierfänge sind.
Ihre Augen verraten mir, dass sie mich wiedererkennt, und plötzlich hört das Beben unter meinen Füßen auf und das Donnern der Steinlawine verstummt. Dann zerreißt Nekaels hohntriefende Stimme die Grabesstille: „Dachtest du wirklich, du könntest dich unbemerkt in die Unterwelt schleichen … Mercy?“
Ehe ich reagieren kann, erscheint ein kurzes Flammenschwert in ihrer Hand, und sie drückt die Spitze seitlich in Jehudiels glatten, kräftigen Hals. Er schreit vor Schmerz. Nekael hält die Klinge dort, treibt die Spitze triumphierend noch tiefer in seine Kehle, und ich sehe, wie Licht in einem stetigen Strom aus der Wunde fließt, während Jehudiel den Kopf hoch erhoben hält, sodass ihm das lange goldene Haar in den Nacken fällt.
„Lass ihn gehen“, sage ich leise. „Wenn du mich willst, wenn es stimmt, was Luc sagt – dass ich schon immer der Preis war, der Zankapfel –, dann lass ihn gehen.“
„So wie wir Selaphiel gehen ließen?“, lacht Nekael. „Wir können ihn jederzeit wieder einfangen, genauso wie den Sterblichen, was, Turael?“
Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken. Ich drehe mich um, sehe eine schimmernde männliche Gestalt vor der Steinlawine am anderen Ende des Gangs stehen. Turael ist weit über zwei Meter groß und die Spitzen seiner fahlgrau eingetrübten Flügel schleifen über den staubigen Boden. Auf seiner Brust prangt ein glühendes Mal, so groß wie der Handabdruck eines Erzengels. Turael ist dunkelhaarig und dunkeläugig, wie ich ihn in Erinnerung habe, aber alles andere an ihm ist völlig verändert. Er trägt ein kunstvolles Geflecht aus schwarzen Zeichen um sein linkes Auge, das seine wilde, männliche Schönheit noch besser zur Geltung bringt.
Wahrscheinlich hat er die ganze Zeit so dagestanden und zugeschaut, wie ich mich von Ryan verabschiedet habe – wie ich meine ganze Liebe zu ihm in meinen Blick gelegt habe –, denn er hat einen bösen Zug um seinen schönen Mund, der nichts Gutes verheißt.
„Turael“, sage ich gefasst, ohne mir meine Angst anmerken zu lassen, „warum in aller Welt trägst du immer noch Flügel, da du doch nur auf der Erde kriechst wie ein Wurm, genauso wie Nekael?“
Turael öffnet den Mund und zischt wie eine Schlange und auch seine Zähne sind spitz wie Wildhundfänge.
„Soll ich dir seinen Kopf bringen?“, sagt er und fährt sich mit seiner mächtigen Hand über die Kehle. „Oder willst du lieber nicht wissen, wie dieser Menschenjunge stirbt?“
Nekael wirbelt Jehudiel zu mir herum. Ihre feingliedrige Hand mit den spitzen dunklen Klauen krallt sich vorne in Jehudiels zerrissenes Gewand wie eine Raubtierpranke. Mit der anderen Hand bohrt sie ihm die kurze, flammende Schwertklinge in den Hals.
„Wir sind beeindruckt“, höhnt sie, „was du aus dir gemacht hast. Wie hast du es nur fertiggebracht, noch gewöhnlicher und nichtssagender zu werden, als du ohnehin schon warst? Wir werden nie verstehen, was unser Herr Luzifer je an dir gefunden hat.“
„Er hat ihr Feuer gesehen“, knurrt Jehudiel. „Ihre Stärke und ihren unbezähmbaren Willen. Sie ist unendlich viel mehr wert als ihr und der Tag der Abrechnung wird kommen. Er steht schon kurz bevor.“
Nekael bohrt ihren Dolch noch tiefer in seine Kehle und er zieht scharf die Luft
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