Mercy, Band 4: Befreit
können. Wenn der Junge hier stirbt, ist das zugleich mein Todesurteil. Ich liebe ihn. Bitte verwandle dich, damit wir alle überleben.“
„Mercy!“, schreit Ryan wieder. Er will weglaufen und zugleich bei mir bleiben, immer bei mir sein.
Da bäumt sich Selaphiel in meinen Armen auf und stößt mich weg. Er hebt eine zitternde Hand hoch, als wollte er mich segnen, und formt ein einziges Wort mit den Lippen, das ich nicht verstehe.
Sofort zerbröckelt der Beton und stürzt nach außen, weg von uns. Ryan und ich handeln wie ein einziges Wesen: Wortlos und ohne einen Blick zu wechseln, fassen wir Selaphiel an den Armen, hieven ihn vom Boden hoch und fliehen mit ihm vor der Steinlawine, die immer näher kommt. Die Trümmer, die herunterstürzen, sind alle groß und schwer genug, um einen ausgewachsenen Mann zu töten, und im Handumdrehen ist der Gang hinter uns vollständig verschüttet.
Während wir in der staubigen Luft vorwärtsstolpern, erfüllt Selaphiel mir endlich meine Bitte – er lässt seine Gestalt auf ein menschlicheres Maß schrumpfen, sodass wir ihn leichter über die Schulter nehmen und rennen können. Aber das Licht, das von ihm ausgeht, wird immer heller, immer strahlender. Es ist, als trügen wir einen sterbenden Stern auf den Schultern. Ryan kann ihn kaum anschauen, so blendend ist das Licht.
„Was ist mit ihm?“, keucht er, als wir vor dem Schacht mit der Eisenleiter stehen.
Ich antworte nicht, weil ich ein Flackern zu meiner Rechten wahrnehme. Ich stemme die Füße in den Boden und drehe mich um. Es ist Jehudiel, der weiter unten im Gang mit einer geflügelten weiblichen Gestalt kämpft, die nur Nekael sein kann.
Ihr Gesicht kann ich nicht erkennen, aber ihr wehendes rotes Haar, ihre Flügel – alles an ihr verströmt ein verräterisches fahlgraues Licht. Das Zeichen der Verdammnis. Die Falten ihrer durchsichtigen langärmligen Gewänder blähen sich im Kampfgetümmel. Turael, der andere Dämon, kann also auch nicht weit sein. Dämonen jagen immer zu zweit, heißt es, und wenn wir jetzt gehen, muss Jehudiel mit beiden gleichzeitig fertig werden.
„Mercy!“, schreit Ryan und zeigt auf die rostige Eisenleiter hinter uns, die direkt in den Stein eingelassen ist. „Beeil dich!“
„Schnell, steig rauf!“, flehe ich Ryan an und überlasse ihm Selaphiel jetzt ganz, drücke die beiden tiefer in den Spalt hinein. „Und sorg dafür, dass ihr am Leben bleibt. Ruf Henri an und regle alles, was nötig ist. Und dann geh zum Flugzeug zurück. Ich finde dich schon. Ich kann hier nicht weg ohne Jehudiel. Egal was früher war, er würde mich auch nicht im Stich lassen. Das weiß ich jetzt.“
Ryan wirft mir einen harten, prüfenden Blick zu, der mir unendlich wehtut.
„Ich hab immer nur an mich gedacht“, sprudle ich hervor. „An meine Freiheit, die mir das Wichtigste war, mein einziger Antrieb. Ich war wie Luc – oder die dort.“ Ich zeige auf Nekaels schimmernde Gestalt in der Ferne. „Aber ich bin nicht allein. Keiner von uns ist je wirklich allein, auch wenn es uns manchmal so vorkommt. Doch was zählt, ist unser Handeln. Jede einzelne Tat wirkt sich auf das Seelengeflecht aus, an dem wir teilhaben, ein Netz, das tief in die Vergangenheit zurückreicht und zugleich weit in die Zukunft hinein. Das war mir früher nicht klar, aber jetzt weiß ich es. Es geht nicht nur um dich selbst oder den Menschen, den du … über alles liebst.“ Ryans Augen verdunkeln sich vor Schmerz bei meinen Worten, und ich füge leise hinzu: „Es geht auch um Achtsamkeit, um Respekt und Dankbarkeit. Alles hat seinen Platz, sonst regiert das Chaos. Daran glauben wir Elohim. Ich dachte immer, ich sei in diesem Netz gefangen, von dem Gabriel sprach, und das machte mich wütend. Dabei wollte er mir nur sagen, dass Freiheit gut und wichtig ist, aber nur, wenn sie sich in ein Ganzes einfügt, in einen Zusammenhang mit anderen, mit einer Gemeinschaft. Das Böse kennt keine Gemeinschaft, Ryan. Es ist sich selbst genug, glaubt, über allem zu stehen. Ich muss ihm helfen“, sage ich verzweifelt. „Verstehst du das nicht? Unsere eigenen Wünsche müssen dahinter zurückstehen. Was wir beide wollen, ist nicht so wichtig. Das war immer so und ich war nur zu blind, um es zu erkennen.“
Ryan beugt sich vor und küsst mich, ganz kurz nur, dann verschwindet er mit Selaphiel und ich höre seine Stiefel über die ersten Leitersprossen poltern.
Plötzlich fühle ich mich unendlich verloren ohne ihn, obwohl ich ihn
Weitere Kostenlose Bücher