Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
spurlos verschwinden konnte. Deshalb war er heute nach Santa Monica
zurückgekehrt, auf der Suche nach Antworten. Heute war der Himmel klar, die Sonne
so grell, dass er eine Sonnenbrille trug, um sich vor dem Gleißen zu schützen.
Eine sanfte Brise fuhr raschelnd durch die riesigen Palmwedel. Er blickte auf
seine Uhr - seine neue Uhr, die alte hatte nach dem Bad im Pazifik den Geist
aufgegeben. »Um wie viel Uhr sollen wir uns treffen?«
»Jetzt würde es passen«, sagte Hayes. »Gib mir
dreißig oder vierzig Minuten. Können wir uns irgendwo in Nähe des Zentrums
treffen? Ich bin im Büro.«
»Sicher.« Bentz wusste, dass Hayes mit »Zentrum«
das Parker Center meinte, das Hauptquartier des LAPD, ein Gebäude, in dem auch
die Abteilung für Mord und Raubüberfälle untergebracht war, doch er verstand
nicht, weshalb Hayes seine Meinung geändert hatte. Zuletzt hätte er ihn am
liebsten umgehend Richtung Osten geschickt, zurück nach New Orleans.
Andererseits ließ der professionelle, um nicht zu sagen distanzierte Ton in
Hayes' Stimme nicht vermuten, dass es sich um ein nettes Mittagessen handeln
sollte.
»Wie wär's mit dem Thai Blossom am Broadway? Das
ist nicht weit weg. Gutes Essen. Vernünftige Preise.«
»Das finde ich. Was ist denn los?«
»Das erzähle ich dir, wenn du da bist.« Hayes
legte auf und ließ Bentz mit einem mulmigen Gefühl zurück. Es war untypisch für
Hayes, dass er so geheimnisvoll und kurz angebunden tat. Etwas war definitiv im
Busch, und zwar nichts Gutes. Bentz machte kehrt und humpelte, auf den Gehstock
gestützt, zurück zu seinem Mietwagen. Heute Morgen hatte er die doppelte Dosis
Ibuprofen einnehmen müssen, und er hatte die Tabletten mit einer großen Tasse
Kaffee hinuntergespült.
Natürlich hatte die ganze Rennerei durch den
Sand nicht gerade zur Besserung beigetragen. Trotzdem hatte er die Unterseite
des Piers bei Tageslicht erkunden wollen in der Hoffnung, auf eine Möglichkeit
zu stoßen, die die Frau zur Flucht genutzt haben konnte. Auf eine Leiter, ein
Seil, einen Steg. Doch als er sich am Strand entlanggeschleppt und nach oben
geblickt hatte, hatte er nichts außer der massiven Konstruktion auf ihren
Stützbalken entdeckt, eingestrichen mit Kreosot und Teer. Keine
Fluchtmöglichkeit. Bei Tageslicht zeigte die Bucht von Santa Monica ein anderes
Gesicht. Zwar herrschte auch jetzt eine Art Karnevalsatmosphäre, doch alles
wirkte weit weniger düster und bedrohlich. Der Pacific Park wimmelte vor
Geschäftigkeit, aus den Fahrgeschäften tönten die Schreie der begeisterten
Besucher. Es waren viele Leute unterwegs, zu Fuß und auf Fahrrädern, manche
joggten, andere betrachteten die Schaufenster der umliegenden Geschäfte.
Männer hatten ihre Angelruten auf dem Pier ausgeworfen, am Strand tummelten
sich Leute, Kinder spielten im Sand. Nichts Bedrohliches, Düsteres.
Fast so, als hätte er die schaurige nächtliche
Szene geträumt. Zusammen mit den Leuten der Sicherheitsfirma hatte er zweimal
die Webcam überprüft, doch wegen irgendeiner technischen Störung konnte der
Film nicht abgespielt werden. »Geben Sie mir noch einen Tag«, hatte der
Techniker gesagt, doch Bentz war sich nicht sicher, ob tatsächlich technische
Mängel der Grund dafür waren oder vielmehr Probleme mit der Genehmigung. Er war
skeptisch, ob er die Aufzeichnungen der Kamera überhaupt je zu Gesicht bekommen
würde.
Er blickte ein letztes Mal aufs Meer hinaus. Wie
konnte eine Frau ins Wasser springen und dann verschwinden? Vielleicht würde
Hayes ihm bei der Beantwortung dieser Frage helfen.
»Vielleicht«, murmelte er, als er ins
aufgeheizte Innere seines Mietwagens stieg. Er wendete rasch, dann trat er
aufs Gas und raste über mehrere gelbe Ampeln. Ausnahmsweise war der Verkehr
dünn, und er entdeckte weder einen Beschatter, noch erblickte er »Jennifer«.
Während der Fahrt spielte er mit dem Gedanken, Hayes würde mit ihm über den
Caldwell-Fall reden, ihn mit Fragen löchern wollen, um herauszufinden, ob er
etwas wusste, was nicht in den Akten stand. Vielleicht hoffte Hayes, dass Bentz
irgendein in Vergessenheit geratenes Detail kannte, welches der Schlüssel zur
Entlarvung des Einundzwanziger-Killers war, der Schlüssel zur Lösung des
jüngsten Zwillingsmordes.
Er dachte an die trauernden Eltern, an die
Hölle, die sie durchleiden mussten. Ein paarmal hätte er um ein Haar selbst die
eigene Tochter verloren, und das Entsetzen darüber hatte sich in sein
Gedächtnis eingebrannt, auch wenn
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