Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
verbrachte sie
mehr Zeit mit dem verdammten Köter als mit ihrem Ehemann.
Ihr Blick fiel auf den Kühlschrank, und sie
musste an die Schokosahnetorte denken, die darin stand. Das war eins der
Rituale, die sie sich zugestand: Jede Woche kaufte sie ein anderes
verschwenderisches Dessert und ließ es im dritten Kühlschrankfach stehen, von
wo aus es unablässig nach ihr rief. Sie gestattete sich einen Bissen
himmlischen Genusses und ließ den Rest dunkel und trocken werden. Zitronenbaiser
oder Key Lime Pie, das süßsaure Nationaldessert Floridas, Kokosnuss-Pie oder
Boston Cream Pie mit Vanille, Schokotoffee-Kuchen oder Eclairs. Sie alle
hatten ihren festen Platz auf der Glasplatte in Augenhöhe, bis sie am nächsten
Samstagabend entfernt wurden. Ihr Ritual der Selbstbeherrschung und Kontrolle.
Heute würde sie nicht mal die Tür öffnen. Stattdessen eilte sie nach draußen,
über die Terrasse zum Pool. Es war dämmrig, am gegenüberliegenden Ende des
Beckens strahlte die Poolbeleuchtung. Das türkisfarbene Wasser war glatt und
einladend.
Vor den mosaikgekachelten Stufen ließ Shana das
Tuch fallen und kickte ihre Flipflops von den Füßen, dann ging sie die Stufen
hinunter, glitt ins warme Wasser und entspannte sich.
Unbestimmt nahm sie wahr, dass die frechen
Chihuahuas mit ihrem Dauergekläffe aufgehört hatten, und leitete mit
gleichmäßigen Zügen ihr allabendliches Ritual ein, ihr zweites Workout für
heute. Freistil bis zum gegenüberliegenden Poolende, dann eine Bahn
Brustschwimmen, zwei Runden Seitenschwimmen, und das Ganze fünfmal. Erst dann
würde sie sich einen Drink genehmigen. Neben der weißen Schachtel mit der
Schokosahnetorte standen in einem gekühlten Krug fertig gemixte Martinis
bereit. Es war eine weitere Willensprüfung: erst die Übungen durchziehen, dann
ein großer Drink mit genau drei Oliven. Jennifer hatte Martinis geliebt.
Durchziehen, durchziehen,
atmen, durchziehen, durchziehen, atmen, umdrehen.
Jetzt Brustschwimmen. Die Nacht brach herein,
der Mond stand hoch am Himmel. Die gedämpfte Außenbeleuchtung warf kleine
Lichtkreise auf die Gartenwege. Hellere Strahler waren auf die Stämme der
Palmen gerichtet, durch die großen Bogenfenster fiel Licht aus dem Hausinnern.
Ein toller Ort zum Leben. Auch wenn ihr Leben in letzter Zeit etwas einsam
geworden war. Durchziehen,
durchziehen, durchziehen. Sie überließ sich ihrer
Routine und zählte im Stillen die Bahnen mit, obwohl ihre Muskeln ihr genau
verrieten, wann sie kurz vor dem Ziel stand.
Als sie die letzte Runde Seitenschwimmen
beendete, konnte sie die Martinis schon fast schmecken. Sie stieg die Stufen
hinauf und griff gerade nach ihrem Baumwolltuch, als sie ein Geräusch vernahm.
Einen Schritt?
Auf der anderen Seite von Zaun und Hecke ertönte
wüstes Gebell. Im Hausinnern antwortete Dirk mit einem tiefen, warnenden
Knurren.
»Großartig«, sagte Shana und schickte sich an,
ins Haus zu gehen und dem Hund den Marsch zu blasen. Was zum Teufel war bloß
los mit ihm? Er würde die kleinen Ratten doch niemals fertigmachen können, wenn
er im Hauswirtschaftsraum eingesperrt war! Obwohl es ihren Nachbarn nur recht
geschähe, wenn Dirk diese Knöchelbeißer zu fassen bekäme. Mein Gott, wie sie
diese Kläffer hasste! Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Was war das? Irgendetwas Dunkles. Ein
Schatten an der Seite des Hauses. Oder hatte sie sich getäuscht? Furcht packte
sie. Ihre Haut kribbelte. Sie spähte angestrengt Richtung Hausseite und sagte
sich, dass dort nichts Ungewöhnliches war, nichts, worüber sie sich Sorgen
machen müsste. Trotzdem ... Direkt hinter dem Lichtkegel einer Gartenlampe
bemerkte sie eine weitere Bewegung: Etwas streifte durchs Gebüsch. Mit wild
klopfendem Herzen starrte sie in die Dunkelheit und schalt sich einen Feigling,
ein kleines schwaches Weibchen von genau der Sorte, die sie so verabscheute.
Da war es wieder! Etwas oder jemand kam näher geschlichen. Hier stimmte etwas
ganz und gar nicht. »Was zum Teufel -?«
Aus heiterem Himmel stürzte eine finstere
Gestalt auf sie zu, Füße klatschten auf den Zement, dunkle Augen funkelten.
Shana fing an zu schreien.
Der Angreifer stieß sie in die Mitte, so fest,
dass sie ins Straucheln geriet und rücklings in den Pool stürzte, der Angreifer
hinter ihr her. Wumm!
Shanas Kopf prallte gegen die Poolkante. Schmerz
explodierte hinter ihren Augen. Fast wäre sie ohnmächtig geworden, doch sie
kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, um sich zur Wehr
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