Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
nächsten ein, zwei Stunden vorsichtig durch Delilahs
verbales Minenfeld lavieren konnte.
Bentz war in einer Sackgasse gelandet. Ramona
Salazar, wer immer das sein mochte, sagte ihm nichts, und er konnte keine
Verbindung zwischen ihr und Jennifer herstellen. Er streckte sich auf dem
schäbigen Bett aus, richtete die Fernbedienung auf den Fernseher und stellte
einen Nachrichtenkanal ein. Wieder die Aufnahmen von Shanas Haus: der
Krankenwagen, der in der umzäunten Auffahrt parkte, der Swimmingpool aus der
Luft, die Mclntyres in glücklicheren Zeiten. Voller Gewissensbisse ließ sich
Bentz auf die Matratze zurücksinken. Wäre Shana noch am Leben, wenn er nicht
nach L.A. gekommen wäre? Oder handelte es sich um eine willkürliche Gewalttat?
Doch das glaubte er nicht eine Sekunde. Er rief seine Tochter an, hinterließ
ihr eine Nachricht, und Kristi rief innerhalb der nächsten fünf Minuten zurück.
»He, Dad, was gibt's?«, erkundigte sie sich. Bentz musste unwillkürlich
lächeln, als er sich ihr Gesicht vor Augen rief, das so schön war wie das ihrer
Mutter. Er rollte sich vom Bett und ging zum Fenster. »Ich häng hier bloß rum«,
sagte er und spähte durch die Blendläden auf den Parkplatz, über den sich die
Dunkelheit gelegt hatte. Das große Neonschild des So-Cal Inn warf sein grelles
Licht auf den Asphalt.
»Du bist noch in L.A., stimmt's? Arbeitest an
einem alten Fall, der nichts mit Mom zu tun hat?« Er hörte den Sarkasmus in
ihrer Stimme. »Weißt du, Dad, es ist wirklich sonderbar, dass du mir nicht
vertraust. Das gefällt mir nicht.« Dafür gab es keine Ausrede. Sie war zu
schlau, und er wollte nicht versuchen, sie zu beschwindeln. »Na schön, du hast
ja recht. Ich untersuche die Umstände ihres Todes.« Er nahm die Fernbedienung
und stellte den Sportbericht auf lautlos.
»Warum?«, fragte Kristi. »Warum tust du das?«
»Weil ich mir nicht mehr sicher bin, ob deine
Mutter wirklich Selbstmord begangen hat. Vielleicht ist sie auch ermordet
worden.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
Kristi, die ihm ansonsten gern ins Wort fiel und sogar Sätze für ihn zu Ende
führte, war untypisch still. »Und warum denkst du das?«, fragte sie
schließlich. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Fünf Minuten oder fünf Stunden lang? Komm
schon, Dad, schieß los.«
»Na gut, vermutlich hast du ein Recht darauf, es
zu erfahren.«
»Ach, tatsächlich?«
»Die Wahrheit ist, ich bin mir nicht mal sicher,
ob deine Mutter in ihrem Grab liegt.«
»Wie bitte? Was sagst du da?« Er vernahm einen
Anflug von Panik in ihrer Stimme. »Du bringst mich völlig durcheinander.«
Das war keine Überraschung. Es war genau der
Grund, warum er seine Tochter eigentlich nicht hatte einweihen wollen. »Du
lieber Gott, sie liegt nicht in ihrem Grab? Was zum Teufel ist bloß los?«
Er erzählte ihr alles, angefangen bei der
Sterbeurkunde und den Fotos, die man ihm zugeschickt hatte, ließ auch die
»Erscheinungen« nicht aus und endete mit seinem Sprung von dem Pier und dem
Mord an Shana Mclntyre. »Ich fasse es nicht«, sagte Kristi bestürzt. »Ich
meine, Mom ist nicht mehr am Leben! Das ist dir doch klar, oder? Wir haben das
doch alles besprochen. Ich dachte, du hättest Halluzinationen wegen der
Medikamente. Komm schon! Wäre sie noch am Leben, hätte sie doch längst Kontakt
mit uns aufgenommen, zumindest mit mir. Und wenn du glaubst, ihren Geist zu
sehen ... ich schätze, damit kann ich umgehen«, räumte sie widerstrebend ein.
»Es ist zwar anders als bei dir, aber immerhin habe ich selbst Dinge gesehen,
die ich nicht erklären konnte, und ich habe immer noch Schwarzweißvisionen von
Leuten, die anschließend sterben. Das ist verdammt unheimlich. Und denk mal an
Olivia ... Dass du Mom gesehen hast oder zumindest dachtest, sie gesehen zu
haben, heißt doch noch lange nicht, dass sie am Leben ist.« Sie holte tief
Luft, und er stellte sich vor, wie sie sich die Haare aus den Augen strich.
»Ich kann es nicht fassen.«
»Ich will nur Klarheit in das Ganze bringen.
Offenbar hat mich jemand nach L.A. gelockt.«
»Wieso?«
»Das versuche ich ja gerade herauszufinden.«
»Nun, das gefällt mir gar nicht«, sagte sie
wieder.
Er schnaubte. »Da sind wir ja schon zwei.«
»Du bist aber nicht der Lone Ranger, oder? Sag
mir, dass es Leute gibt, die dir helfen.«
Noch nie in seinem Leben hatte er sich so allein
gefühlt, aber das wollte er nicht zugeben. Er hatte Kristi bereits genug
belastet und wollte sie nicht noch
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