Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
fast außer Sicht. »Was für ein Spiel
spielst du?«, fragte er mit zusammengebissenem Kiefer.
Flüchtig sah er sie in einer weiter unten
gelegenen Kehre auftauchen. Die Kurve lag so gefährlich nahe am Abgrund, dass
man dort eine Plattform mit Geländer errichtet hatte. Von hier aus hatten die
Touristen einen spektakulären Ausblick auf den Devil's Caldron, den
Teufelskessel, in dem die aufgewühlte See toste.
Er holte auf. Sah, wie sie die Plattform über
der Bucht erreichte.
Keuchend spornte er sich an, schneller zu
laufen. Auf der Plattform blieb sie stehen. Eine Sekunde lang dachte er, sie
würde auf ihn warten, doch dann schwang sie zu seinem Entsetzen ein Bein übers
Geländer. O Gott, was hatte sie vor? Doch
im Grunde wusste er es. Du liebe Güte. »Nein!«
Sein Herz setzte aus. Sie stand auf der
Brüstung, hoch oben über dem Devil's Caldron.
Nein, bitte nicht! Schlitternd
kam er zum Stehen und sah ihr voller Schrecken zu. »Tu's nicht!«
Sie blickte über die Schulter und warf ihm eine
Kusshand zu. Dann drehte sie sich wieder um und hob die Arme über den Kopf wie
eine Ballerina. Einen Moment später sprang sie, ihr Körper eine winzige T
Tadel, die an den Klippen vorbeischoss. Bentz zwang sich zuzusehen, wie sie aus
seinem Blickfeld verschwand und den tosenden Fluten tief, tief unten
entgegenstürzte.
29
Es war, als würde er Jennifer noch einmal
sterben sehen. Bentz umklammerte das Geländer und starrte in die aufgewühlte
See unter ihm. Er fühlte sich so elend, dass er hätte schreien mögen. Sein Herz
hämmerte. Warum war sie gesprungen? Warum?
Er suchte jeden Zentimeter Küstenstreifen und
Wasser nach einer Spur von ihr ab - nach einem Fitzchen Rosa oder Weiß, das auf
der wild wogenden Brandung tief unter ihm tanzte.
Nichts. Um Himmels willen ...
»He!«, hörte er von weit her, wie durch einen
langen Tunnel. »He!«
Er blinzelte, um wieder klar sehen zu können,
dann wandte er sich um und sah jemanden den Hang herunterlaufen. Nein, nicht
eine, sondern zwei Personen. Ein langhaariger Bursche in den Zwanzigern und ein
langbeiniges Mädchen, das hinter ihm herrannte.
»Ich hab sie springen sehen! Allmächtiger, sie
ist tatsächlich gesprungen!«, keuchte der Junge, das Gesicht rot vom Laufen,
die Augen vor Sorge weit aufgerissen. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Das ist doch unmöglich«, sagte seine
Begleiterin. »Ich meine, das müssen doch gut fünfzehn Meter sein!«
»Mehr. Vielleicht sogar zwanzig!«, widersprach
er mit Nachdruck und lief zur Brüstung. Dann fiel sein Blick auf Bentz'
Pistole. »Oh, hoppla ...«Er blieb abrupt stehen und hob die Hände. »Ganz ruhig,
Mann.«
»Ich bin Polizist«, sagte Bentz und holte seine
Dienstmarke heraus - etwas, das er schon Hunderte, vielleicht Tausende Male
gemacht hatte, aber heute kam es ihm fremd vor, surreal, als würde er sich
selbst dabei zusehen. »Rick Bentz. New Orleans Police Department.« Seine Stimme
klang gespenstisch. Er schaute hinunter in die Brandung. Sicher würde sie
wieder auftauchen. Sie musste doch wieder auftauchen! Sein Blick streifte über die
tosenden Fluten, die felsigen Untiefen und den sichelförmigen Sandstreifen.
Nichts.
»Ach so ... Sie waren hinter ihr her. War sie
eine Kriminelle?«, fragte der Junge. Offenbar glaubte er Bentz nicht. »Aus New
Orleans?«, hakte seine Freundin nach, die hinter ihn getreten war und
schüchtern an seiner Schulter vorbeispähte.
Wenn ihr wüsstet, dachte Bentz erschöpft und
griff nach seinem Handy, die Augen immer noch auf den Ozean gerichtet. Wo zum Teufel bist du? Nun komm schon! Insgeheim
wünschte er sich nichts mehr, als dass sie an die Oberfläche kam, lebendig,
diese Frau, die er schon einmal zu Grabe getragen hatte.
»Hier unten ist kein Empfang, Kumpel«, sagte der
Junge mit einem Blick auf Bentz' Handy. »Sie müssen wieder rauf gehen.«
Bentz nickte, aber er konnte sich nicht von der
See und den Wellen losreißen, die sich an dem kleinen Küstenstreifen brachen
und Gischtwolken zu ihnen heraufschickten. Lieber Gott.
Wie schon einmal, wie in der Nacht auf dem
Santa-Monica-Pier, war sie verschwunden. »Verdammt noch mal«, murmelte er mit
zusammengebissenen Zähnen, dann wandte er sich den beiden jungen Leuten zu und
versuchte, sich zusammenzunehmen. »Wie heißt du?«, fragte er den Jungen.
»Travis.«
»Okay. Also, Travis, nimm das Handy, lauf nach
oben und ruf die 911.« Er drückte ihm das Handy in die Hand. »Sag ihnen, dass
eine Frau in den
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