Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
die Bedienung Bentz'
Getränk gebracht hatte, dann griff er in seine Jackentasche und zog einen
gelbbraunen, gefütterten Briefumschlag heraus: A4-Format mit Bentz' Namen in
Druckbuchstaben darauf, adressiert an die Mordkommission des Police Department
von New Orleans. Auf beiden Seiten war der Vermerk PERSÖNLICH aufgedruckt. Der
Umschlag war ungeöffnet. »Ist das heute gekommen?«
»Hm.« Montoya nahm einen Schluck Kaffee.
»Gescannt?« Zum Beispiel, um explosive oder giftige Substanzen wie Anthrax
aufzuspüren. »Ja.«
Bentz kniff die Augen zusammen. »Von dir?«
»Korrekt. Hab ihn in der Poststelle entdeckt und
dachte, das geht niemand außer dir etwas an, also ...« Er zuckte eine Schulter.
»Hast du ihn geklaut.«
Montoya winkte ab. Vielleicht ja. Vielleicht
nein. »Er ist für dich persönlich bestimmt. Dachte, es wäre das Beste, du
kriegst ihn, bevor Brinkman oder irgendjemand sonst ihn zu Gesicht bekommt.«
Sein Blick glitt zu dem Umschlag. »Vielleicht ist ja gar nichts Wichtiges drin.«
»Wenn du das glauben würdest, hättest du dir
wohl kaum die Mühe gemacht.«
Wieder zuckte Montoya die lederbewehrte
Schulter. »Machst du ihn auf?«
»Jetzt?«
»Ja.« Ein weiterer Schluck Kaffee. »Das steckt
also dahinter - du bist neugierig.«
»Hey, ich gebe dir nur Rückendeckung.«
»Gut.« Bentz betrachtete den Poststempel. Er war
verschmiert, und das Licht in der Bar war zu dunkel, als dass er viel erkennen
konnte, doch er hatte eine Stiftlampe an seinem Schlüsselanhänger. Als er den
kleinen Strahl auf den Poststempel richtete, wurde ihm mulmig. Der Name der
Stadt war unleserlich, doch er erkannte die Postleitzahl: Sie gehörte zu der
Gegend, in der Jennifer und er vor ihrem Tod gelebt hatten.
Mit dem Hausschlüssel schlitzte er den Umschlag
auf und zog vorsichtig den Inhalt heraus. Ein einzelnes Blatt Papier und drei
Fotos.
Er atmete scharf ein. Die Fotos, mit Daten
versehen, zeigten seine erste Frau, Jennifer. Lieber Gott, was hatte das zu
bedeuten? Er hörte seinen Puls in den Ohren hämmern. Erst die »Erscheinungen«
und jetzt das? »Ist das -?«
»Ja.« Die Fotos waren klar und eindeutig. In
Farbe. Jennifer, die eine belebte Straße überquerte. Jennifer, die in ein
helles Auto stieg, Marke und Modell unbestimmt. Jennifer, die an einem hohen
Tisch in einem Coffeeshop saß. Das letzte Foto war von der Straße aus aufgenommen,
durch die Scheibe hindurch. Davor waren ein Gehsteig mit Passanten sowie Teile
zweier Zeitungskästen zu erkennen. Einer, wie er feststellte, von der USA Today, der andere von der L.A. Times.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte Bentz nach
dem Spiegelbild des Fotografen in der großen Glasscheibe des Coffeeshops, doch
er konnte keins entdecken.
Das war verrückt.
»Alte Fotos?«, fragte Montoya.
»Nicht, wenn die Daten von der Kamera stimmen.«
»Die kann man ändern.«
»Ich weiß.«
»Und mittels digitaler Bildbearbeitung und
Programmen wie Photoshop kriegt man heutzutage alles hin, die Köpfe austauschen
und so.«
Bentz blickte von den verstörenden Fotos auf.
»Aber warum?«
»Da will dich jemand auf den Arm nehmen.«
»Vielleicht.« Er richtete seine Aufmerksamkeit
auf das Blatt Papier, und sein Kiefer wurde hart wie Granit. Es handelte sich
um eine Kopie von Jennifers Sterbeurkunde. Über das sauber getippte Dokument
war ein leuchtend rotes Fragezeichen gekritzelt.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Montoya. Bentz
starrte auf das beschmierte Blatt. »Eine üble Art und Weise, mir mitzuteilen,
dass meine erste Frau womöglich gar nicht tot ist.«
Montoya zögerte und betrachtete prüfend den
Gesichtsausdruck seines ehemaligen Partners. »Du machst Witze, oder?«
»Sieht das für dich nach einem Witz aus?«,
fragte Bentz und deutete auf die Sterbeurkunde und die Fotos.
»Du glaubst, das ist tatsächlich Jennifer?
Nein!« Er blickte den älteren Cop prüfend an. »Du verarschst mich doch, oder?«
Und dann setzte Bentz Montoya ins Bild. Bis zu
diesem Augenblick hatte nur seine Tochter, die in seinem Zimmer im Krankenhaus
gewesen war, als er aus dem Koma erwachte, gewusst, dass Bentz seine erste
Frau gesehen hatte. Kristi hatte seine Vision als Folge des Komas und zu vieler
Medikamente abgetan. Nach jener ersten Erscheinung hatte er den Mund gehalten,
und seine Tochter, die ganz und gar mit den Vorbereitungen ihrer Hochzeit
beschäftigt war, hatte das Thema nicht mehr angeschnitten. »Warte mal 'ne
Sekunde«, sagte Montoya, als Bentz innehielt, um
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