Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
heftig. »Jennifer!« Er schrie ihren Namen, ohne aus seinem unruhigen
Schlaf zu erwachen. Olivia tat kein Auge zu.
Sein Schrei hallte in ihrem Kopf wider. Sie
schlüpfte aus dem Bett und ging nach unten, hüllte sich in eine flauschige
Decke und streckte sich auf dem Sofa aus. Der Hund rollte sich auf ihrem Schoß
zusammen, während sie aus dem Fenster auf den aufsteigenden Mond blickte.
Olivia wusste nicht, was in ihrem Mann vorging, doch sie wusste instinktiv,
dass Ricks erste Ehefrau dabei war, einen Keil zwischen sie zu treiben.
Das war lächerlich. Sie hatte Bentz lange nach
Jennifers Tod kennengelernt, und obwohl sie vermutete, dass er sich einen Teil
der Schuld an dem tödlichen Unfall seiner jungen Frau gab - dafür, dass er
lebte, während sie ihr Leben hatte lassen müssen -, schien er doch gut damit
umgehen zu können.
Bis er die zwei Wochen im Koma gelegen hatte.
Irgendetwas war in diesen verlorenen Tagen vorgefallen. Rick Bentz hatte sich
verändert. Was nicht ungewöhnlich war, wenn man die Umstände bedachte. Er wäre
um ein Haar gestorben.
Niemand stand ein solches Trauma durch, ohne
emotionale Narben davonzutragen. Es war normal, dass man sich danach zurückzog
und auf sich selbst konzentrierte. Der Mann hatte dem Tod ins Auge geblickt,
und Olivia hatte ihm reichlich Zeit zur Genesung gegeben, nicht nur körperlich,
sondern auch seelisch.
Doch was zur Hölle hatte Jennifer Nichols-Bentz
damit zu tun?
Sie musste eingedöst sein, denn sie stellte
überrascht fest, dass am Horizont der Morgen dämmerte. Tiefe magentafarbene und
lila Schatten zeigten sich am östlichen Himmel, und sie schaffte es nicht, auch
nur eine Sekunde länger auf dem Sofa liegen zu bleiben. Sie hatte Kopfschmerzen
und beschloss, Kaffee zu machen. Koffeinfrei, ermahnte sie sich, als sie ins
Badezimmer ging und den kleinen Abfalleimer unter dem Waschbecken hervorzog.
Auf einem Haufen zusammengeknüllter
Taschentücher lag ihr letzter Schwangerschaftstest, die unverkennbare Verpackung,
der Test mit der rosafarbenen Linie, die ein positives Ergebnis anzeigte, denn
ja, in der Tat, Olivia Bentz war schwanger.
3
»Hilf mir!« Jennifers Stimme
klang so deutlich wie beim letzten Mal, als er sie lebend gesehen hatte. »Rick
... hilf mir.« Sie lag im Auto, das Gesicht blutüberströmt, reglos. Und trotzdem
hatte er ihre Stimme gehört »Das wird schon wieder«, sagte er und versuchte,
zu ihr zu gehen, aber seine Beine waren schwer wie Blei, als stecke er in
Treibsand fest. Je mehr er sich anstrengte, an sie heranzukommen, desto weiter
entfernt war sie. Ihr Gesicht löste sich vor ihm auf.
Plötzlich öffnete sie die
Augen.
»Es ist deine Schuld«, sagte
sie, während sich das Fleisch von ihrem Schädel abschälte und nichts übrig
blieb als nackter Knochen und Augen, die ihn vernichtend anblickten. »Deine
Schuld.«
»Nein!«
Bentz riss die Augen auf und stellte fest, dass
er im Bett lag. Allein. Sein Puls galoppierte dröhnend in seinem Kopf. Draußen,
am Ende der Zufahrt, hörte er das Rumpeln eines Geländewagens, dann das
Klappern von Mülltonnen. Wie viel Uhr war es?
Die Sonne brannte durch die Fenster, und er
blickte auf die Uhr. Nach neun. Endlich hatte er mal geschlafen. Unruhig, aber
lange. Er rieb sich das von Bartstoppeln übersäte Kinn und versuchte, den
Alptraum von Jennifer aus seinem Hirn zu verbannen.
Olivia war bereits aufgebrochen. Weil sie noch ein Leben hat.
Er ballte zornig die Faust, dann streckte er die
Finger langsam wieder aus.
Zum Teufel mit deinem Selbstmitleid, Bentz.
Diese Armer-bemitleidenswerter-Kerl-Masche wird langsam langweilig. Er gab sich
einen Ruck, ging zur Toilette, dann humpelte er nach unten, wo noch Kaffee auf
der Warmhalteplatte stand. Olivia hatte keine Nachricht hinterlassen, aber er
wusste, dass sie sich mit einer Freundin traf, einer Frau, die mit ihr im Laden
arbeitete. Olivia und Manda hatten eine feste Verabredung zu Milchkaffee,
Beignets und einem Schwatz im Cafe Du Monde in der Decatur Street. Sie lasen
die Zeitung und beobachteten die Passanten, während sie an einem der Tischchen
draußen saßen und an ihren dampfenden Tassen nippten.
Bentz schenkte sich einen Kaffee ein, ließ Harry
S. raus, der schnuppernd am Rand der Veranda entlanglief, und starrte ins
Dickicht hinter dem Garten, wo ihm vor wenigen Tagen Jennifer erschienen war.
Er hatte sie gesehen, da war er sich sicher,
zumindest aber jemanden, der ihr so sehr ähnelte, dass es ihm den
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