Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
Freunden, Familie und Nachbarn hatte zu keinem
konkreten Verdacht geführt. Es gab nichts, womit sie weitermachen konnten. Die
Presse drangsalierte den für die Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Beamten, und
mittlerweile hatte es auch der alte Caldwell-Fall wieder auf Seite eins
geschafft.
Doch all die Aufmerksamkeit, die der Doppelmord
an den Springer-Mädchen erregte, änderte nichts an der Tatsache, dass es noch
weitere ungeklärte Mordfälle zu bearbeiten galt. Manche älteren Datums, manche
ganz frisch. Erst gestern Nacht, als Hayes in Santa Monica gewesen war und
Bentz' Hintern gerettet hatte, hatte ein häusliches Gewaltverbrechen
stattgefunden. Hauptverdächtiger war der Ehemann, Opfer seine Frau, die er vor
drei Jahren geheiratet hatte. Dann war da noch der Neunzehnjährige in der Leichenhalle,
der in den frühen Morgenstunden fünf Messerstiche in die Brust bekommen hatte.
Und das war nur die Spitze des Eisbergs. Die Aktenstapel wurden von Minute zu
Minute höher. Hayes kehrte an seinen Schreibtisch zurück, blickte auf die Uhr
und seufzte innerlich. Er würde heute nicht früh nach Hause kommen, und
vermutlich musste er auch seine Verabredung mit Corrine absagen. Sie würde das
natürlich verstehen, doch sie würde trotzdem ein bisschen verärgert sein. Er
lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück, klickte sich durch die
Tatortbilder des Springer-Falls und versuchte, etwas zu entdecken, das ihm
bislang entgangen war. Dann blätterte er die Aussagen der Leute durch, die den
Zwillingen am nächsten gestanden hatten, darunter auch die Personen, die sie
zuletzt lebend gesehen hatten. In Elaines Fall handelte es sich dabei um ihre
Mitbewohnerin Trisha Lamont, die Elaine - oder »Laney«, wie Trisha sie nannte -
flüchtig gesehen hatte, als sie nach ihrem letzten gemeinsamen Seminar den
College-Hof überquerte. Trisha hatte angenommen, sie wäre direkt nach Hause
gegangen, und es gab keinen anderen Hinweis und keine Aussage, die das
widerlegten.
Hayes überprüfte die Aussage von Cody Wyatt, der
laut Trisha so was Ähnliches wie Laneys Freund gewesen war. Doch am Tag ihres
Verschwindens hatte Wyatt Laney seit dem frühen Morgen, als sie sich in der
Mensa des Studentenwerks auf einen Kaffee getroffen hatten, nicht mehr gesehen.
Die Person, die die Leichname gefunden hatte,
Felicia Katz, war ein unbeschriebenes Blatt. Das Mädchen hatte lediglich das
Pech, das Lagerabteil neben dem Tatort gemietet zu haben.
Ein Mann, Phillip Armes, hatte seinen Hund am
Parkrand in der Nähe von Lucille Springers Wohnung spazieren geführt. Er hatte
angegeben, einen großen Mann unbestimmter Abstammung gesehen zu haben, der
einer jungen Frau, vermutlich Lucille Springer, über die Straße in Richtung
Lucilles Apartmenthaus gefolgt war. Doch er war zu weit entfernt gewesen, und
der alte Phillip ging auf die achtzig zu und trug eine dicke Brille. Nicht
unbedingt der geeignetste Zeuge. Lucilles Nachbarn hatten nichts mitbekommen,
doch Schleifspuren auf dem Absatz der Eingangstreppe deuteten auf einen Überfall
hin.
Das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen
konnten, war, dass Lucille und Elaine einander an jenem Abend gesimst hatten.
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, zu dem Phillip Armes Lucille und ihren Verfolger
gesehen hatte, war sie damit beschäftigt gewesen, eine SMS an ihre Schwester zu
schicken. Beide Handys waren am Tatort entdeckt worden, die Nachrichten darauf
unangetastet - Nachrichten, die mit den Verbindungsnachweisen der Handyanbieter
übereinstimmten.
Der Bastard, der Elaine entführt hatte, hatte
ein Foto des gefesselten, verängstigten Mädchens an Lucille geschickt, kurz
bevor sie selbst überfallen worden war. Vor zwölf Jahren, während der
Ermittlungen zu dem Caldwell-Fall, hatten die Opfer noch keine Handys besessen
- eine Abweichung von dem jetzigen Verbrechen, welche auf die erweiterten
technischen Möglichkeiten zurückzuführen war. Doch abgesehen davon, dass die
Caldwell-Zwillinge in einem verlassenen Warenlager gefunden worden waren und
die Springer-Mädchen in einem Lagerabteil, war das der einzige Unterschied.
Hayes ging die Berichte durch, klopfte sich mit
dem Radiergummiende seines Bleistifts gegen die Lippen und nahm die Leute, die
kamen und gingen, kaum wahr. Er fühlte mehr als dass er sah, wie Dawn Rankin
vor seinem Schreibtisch stehen blieb. Sie hielt ihre Tasche in der Hand und
trug einen Pulli über dem Arm, als wollte sie sich für heute verabschieden.
»Rat mal, von wem ich einen
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