Meridian - Flüsternde Seelen
erzählt? Wie konntest du mich in dem Glauben lassen, dass mit mir etwas nicht stimmt?«
Tens trat hinter mich. Als ich mich an ihm festhielt, umfasste er mich fürsorglich.
»Ich habe darauf gewartet, dass du selbst danach fragst«, erwiderte sie, ohne zu zögern. »Dass du das Thema anschneidest.«
»Wie hätte ich fragen können? Du hast mich nie auf den Gedanken gebracht … Nie hast du dich so verhalten, als hättest du etwas bemerkt.« Mein Zorn loderte auf. Am liebsten hätte ich sie beschimpft, ihr an den Kopf geworfen, dass sie eine schlechte Mutter sei, und gefordert, mir Sammy zu überlassen, da sie nicht für ein Kind sorgen könne.
»Meridian?« Dads Stimme erklang aus dem Hörer. Die heftigen Schluchzer meiner Mutter entfernten sich vom Telefon.
»Dad.«
»Ich weiß, dass du das anders siehst, aber sie hat ihr Bestes getan.«
»Das ist keine Entschuldigung.« Wie konnte er ihr so mühelos verzeihen?
Er seufzte. »Ich würde ja gern alles ändern, aber uns sind die Hände gebunden. Ich vermisse dich, Kind.«
»Kann ich mit Sammy reden?«
»Aber klar.« Ich hörte, wie eine Tür zufiel und wie Dad »Sammy!« rief.
Eine Pause entstand, als überlegte er, wie er fortfahren sollte. »Geht es dir gut? Brauchst du Geld? Oder sonst etwas?«
»Nein, wir sind versorgt.«
»Wir? Du und Tante Merry?«
»Nein … äh … mein Freund. Er ist auch etwas Besonderes.«
»Oh. Behandelt er dich gut?«, fragte Dad.
»Ja, Dad.«
»Ausgezeichnet. Kann ich mal mit ihm reden?«
»Ich habe nicht viel Zeit.«
»Gut, dann vielleicht beim nächsten Mal. Hier ist Sammy. Er war im Bad. Ich liebe dich.«
Ich konnte mich nicht erinnern, dass mein Dad je diesen Satz ausgesprochen hätte. Ich antwortete nicht. Wenn ich es versucht, ja, selbst wenn ich gelogen hätte, hätte ich noch den allerletzten Rest meiner Fassung verloren.
»Mer-D!«, kreischte Sammy ins Telefon. »Ich vermisse dich so.«
»Hallo, Sammy.« Meine Schultern lockerten sich, und meine Seele lächelte. Ich schaltete den Raumlautsprecher ein, damit Tens meinen Bruder hören konnte.
»Wann kommst du nach Hause? Wir haben zusammen ein Zimmer! Man kann die Delphine und die Seekühe sehen. Und jeden Tag an den Strand gehen.«
»Mann, das klingt ja super.« Die Vorwahl hatte mir verraten, dass sie in Miami waren. »Ich vermisse dich.«
»Ich weiß. Ich dich auch.«
»Hast du meinen Brief gekriegt? Jo hat gesagt, dass er ihn dir gibt.«
»Habe ich.« Die Vorstellung, dass der Kriegerengel Josiah auf den Spitznamen Jo hörte, brachte mich zum Lachen.
»Kommst du bald?«
»Ich glaube nicht, Kurzer.«
»Dad hat mir erzählt, dass du jetzt eine Superheldin bist. Hast du auch einen Umhang und eine Maske?«
Tens musste ein Lachen unterdrücken.
»Äh … na ja …«, stammelte ich.
»Das wäre nämlich echt cool. Ich vermisse dich.«
»Ich dich auch.«
»Wir müssen bald wieder umziehen. Ich hasse Umzüge.«
»Ich weiß, es tut mir leid.«
Nun war mir klar, warum Josiah mir die Telefonnummer meiner Familie übermittelt hatte. Sie würden diese Wohnung verlassen, damit die Aternocti sie nicht mehr als Geiseln nehmen konnten.
»Ich habe jetzt einen neuen Namen.«
Ich sah Tens an. Ein neuer Name?
»Sammy, das reicht«, unterbrach Dads Stimme. »Verabschiede dich.«
»Tschüss, Mer-D. Komm nach Hause.«
»Ich hab dich lieb, Champion.« Ich blinzelte mir die Tränen aus den Augen und ließ sie die Wangen hinunterrinnen. Tens wischte sie mir ab.
»Meridian?«
»Ja«, antwortete ich meinem Dad.
»Wir nehmen an einer Art Schutzprogramm teil. Josiah kümmert sich um alles.«
»Ich verstehe.«
»Es ist das Beste so. Für deinen Bruder ist es sicherer, noch einmal von vorn anzufangen. Ohne dass er über dich Bescheid weiß.«
»Aha.« Wollten sie mich etwa aus ihrem Leben löschen?
»Wir werden an dich denken, aber deinen Namen nicht aussprechen dürfen. Josiah hat zugesagt, Sammys Gedächtnis zu wecken, wenn er so weit ist. Wenn Sammy dich wiedersieht, wird er sich an alles erinnern.«
»Oh.«
»Das ist der einzige Weg, dich und uns zu schützen.«
Ich würde wieder totgeschwiegen werden? War das wirklich der einzige Weg?
»Es tut mir leid.« Allmählich gingen ihm die Entschuldigungen aus.
»Ich weiß.«
»Lass mich mit ihr reden!«, rief Mom.
»Auf Wiedersehen, Dad.« Ich beendete die Verbindung, während ich im Hintergrund weiter das Flehen meiner Mutter hörte. Ich konnte es nicht mehr ertragen und wollte im Moment nichts
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