Meridian - Flüsternde Seelen
streichelte ihr Gesicht und Haar. Nicole schaltete das Signal der Maschine auf stumm.
Wortlos setzten Nicole und ich uns zum Warten auf die in die Fensternische eingelassene gemütliche Bank, wo ich mich schon immer gern einmal niedergelassen hätte. Mini lag auf dem Bett und hielt Wache, während Nicole und ich uns aneinanderschmiegten.
Ich blickte in die Nacht hinaus, bis sich langsam das Morgengrauen am Himmel ausbreitete. Nicole berührte mich an der Schulter. Glee war tot, und zwar schon seit einer Weile.
Als Enid bereit dazu war, legten wir sie wieder in ihr eigenes Bett. »Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber im Geist ist sie hier, meine Lieben. Sie wird auf mich warten. Wir haben immer alles gemeinsam getan – der Übergang ins Jenseits wird da keine Ausnahme sein.« Enid wirkte erstaunlich ruhig und friedlich. Sie lächelte mich sogar an, als wir den Raum verließen. Ich fragte mich, ob sie wegen des Schocks den Bezug zur Wirklichkeit verloren hatte.
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Kapitel 35
G anz gleich, was auch in den Polizeiberichten stehen mochte, der Bombenanschlag auf das Festival war nicht das Werk einer internationalen Terrorbande. Die Übeltäter waren eindeutig Aternocti.
Außerhalb des schützenden Badezimmers fühlte sich die Welt längst nicht mehr so kuschelig und geborgen an.
»Hast du die Brandnarben auf ihren Unterarmen gesehen?« Ich wurde das Bild von Juliets bedrückter Miene und ihren Verletzungen nicht los.
»Zigarettenkippen«, verkündete Tens.
»Was?«
»Die Verletzungen stammen von auf der Haut ausgedrückten Zigaretten.«
»Woher weißt du das?«
Tens zuckte mit den Schultern, was bedeutete, dass er nicht darüber reden wollte.
»Wo liegt die Verbindung zu Kirian? Und zu dieser Frau?« Ich berichtete ihm von dem Gespräch, das ich auf Minervas Anweisung hin belauscht hatte.
»Wir sollten sie warnen.« Tens stellte Teller mit Rührei auf den Tisch.
»Weil das beim letzten Mal so gut geklappt hat.« Ich hatte zwar die Menschenmenge nach Aternocti abgesucht, doch irgendwann erkannt, dass ich nur nach schwarzen Kapuzenumhängen Ausschau hielt, wie Perimo und seine Gefolgsleute sie getragen hatten. Es befanden sich zwar einige Priester im Ornat unter den Leuten, aber sie kamen nicht nah genug heran, dass ich sie erspüren konnte. Ich wusste ohnehin nicht, ob ich Aternocti erkennen würde, ohne ihre leeren, ausdruckslosen, schwarzen und stumpfen Augen zu sehen. »Sie hat uns nicht geglaubt.«
»Hättest du das an ihrer Stelle getan?«
»Was?«, fragte ich.
»Hättest du deiner Mutter geglaubt, wenn sie dir die Wahrheit gesagt hätte?«
Eine Weile beschäftigten wir uns schweigend mit dem Essen, während ich über seinen Einwand nachdachte. Meine erste Reaktion war Zorn. Sie hätte es, verdammt noch mal, wenigstens versuchen müssen.
Tens schob mir Sammys Zeichnung über den Tisch hinweg zu, ohne etwas zu sagen. Aber das war auch überflüssig.
Bestrafte ich meinen Bruder, indem ich meinen Eltern die kalte Schulter zeigte? Er hatte nie etwas anderes getan, als mich bedingungslos zu lieben. »Ich kann keine Versprechungen machen.«
Tens nickte. »Das ist mir klar.«
»Ich rufe an.«
Er legte ein Mobiltelefon auf den Tisch und fing an abzuräumen.
»Kannst du bitte versuchen, im Buch einen Eintrag aus dem Jahr neunzehnhundertdreiundvierzig zu finden? Er stammt entweder von einer gewissen Prunella, oder sie wird darin erwähnt.«
»Bist du sicher?«
»Tante Merry hat es gesagt.«
»Okay.« Achselzuckend wickelte Tens das Buch aus einer der Steppdecken meiner Tante, unter der ich es tarnte. Ich griff nach dem Telefon und wählte. Auf der Stirn brach mir der Schweiß aus, und mein Mund wurde trocken, während ich dem Freizeichen lauschte.
»Hallo?« Die Stimme meiner Mutter hallte aus dem Hörer. Sie klang gealtert.
»Hallo.« Ich konnte sie nicht Mom nennen. Noch nicht.
»Meridian, Schatz, ist alles in Ordnung? Wo bist du? Wie geht es Tante Merry?« Gleichzeitig erleichtert und besorgt, sprudelte sie Fragen hervor.
»Tante Merry ist tot.« Ich gab mir keine Mühe, etwas zu beschönigen, denn ich wollte ihr weh tun.
Sie schnappte nach Luft. »Aber …«
»Ist Dad da?«
»Oh, Meridian, es tut mir ja so leid. Du kannst dir gar nicht vorstellen …«
»Ist Dad da? Oder Sammy?«, fiel ich ihr ins Wort. Ich war noch nicht so weit, mir ihre Schuldgefühle anhören zu können.
»Dein Bruder vermisst dich.«
»Du nicht?«, platzte ich heraus. »Warum hast du mir nie etwas davon
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