Meridian - Flüsternde Seelen
Enid tiefer in die Kissen.
»Der Arzt hat sie Ihnen verschrieben, und ich werde so lange hier stehen bleiben, bis Sie sie geschluckt haben.« Die Heimleiterin war ruhig, zu ruhig. In ihren Augen stand ein wilder und wahnwitziger Ausdruck.
Ich sah zu, wie Enid gegen ihre eigene Hilflosigkeit ankämpfte. Sie wollte widersprechen, wirklich, aber sie tat es nicht. Mit zitternder Hand schob sie die Tabletten in den Mund, worauf die Heimleiterin Nicole ein Zeichen gab, ihr das Wasserglas zum Hinunterspülen zu reichen.
Ich schlich mich ins Zimmer und versuchte, anwesend zu sein, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
»Ihre Schwester sieht aus, als hätte sie Schmerzen. Das können wir nicht dulden.« Die Heimleiterin schloss einen kleinen Schrank auf, der Ampullen mit Medikamenten enthielt, und holte ein Glasfläschchen heraus. »Juliet, bring mir eine Spritze.«
Ich zuckte zusammen und kramte dann in einer Schublade herum, bis ich die richtige Größe für die Infusion gefunden hatte.
»Geht’s vielleicht heute noch?«, blaffte die Heimleiterin.
Ich beobachtete, wie Nicole das Wasserglas absetzte. Enid starrte die Heimleiterin mit weit aufgerissenen Augen an. An ihren zitternden Lippen erkannte ich, dass sie Angst hatte. Doch ich konnte im Moment nichts tun, um sie zu trösten oder das zu verhindern, was, wie ich befürchtete, gleich geschehen würde. Es kam zwar nicht oft vor, aber angesichts der irrwitzig glitzernden Augen der Heimleiterin erschien mir alles möglich.
Als ich einen Blick mit Nicole wechselte, verriet mir ihre Miene, dass sie meine Gefühle teilte.
Ich trat zwischen die Betten und zwängte mich durch die Geräte, während Nicole Enids Hand nahm. Mini erschien und schmiegte sich an meine Beine.
Wie in Zeitlupe bereitete die Heimleiterin die Spritze vor und schob sie in Glees Infusion. Dann nahm sie den Sauerstoff-Überwachungssensor von Glees Finger und schaltete das Gerät ab. »Wunderbar. Jetzt geht es ihr gleich viel besser.« Ohne sich umzuschauen, marschierte sie hinaus, als sei eine Zentnerlast von ihr abgefallen. »Ihr Mädchen legt euch am besten schlafen. Morgen ist ein langer Tag«, sagte sie über die Schulter gewandt.
Tränenüberströmt und kläglich wimmernd, spuckte Enid die Tabletten aus, sobald die Tür sich geschlossen hatte.
»Bitte, bitte, seien Sie still.« Ich lehnte mich über sie. Dass die Heimleiterin zurückkehrte und Enid ebenfalls ins Jenseits beförderte, hätte uns gerade noch gefehlt. »Sie kommt sonst wieder. Bitte, bitte.«
Nicole schaltete Enids Maschine wieder ein. Als ich aufblickte, schüttelte sie traurig den Kopf. Wir drei umarmten uns und hielten einander fest, während die Tränen unsere Seelen in sich zusammenfallen ließen wie ein auskühlendes Soufflé. Mini drängelte sich zwischen uns.
»Warum? Oh, warum denn nur?« Enids Finger krallten sich in meine Schulter und in mein Haar. Sie zerrte und stieß, als wollte sich ihr Schmerz einen Weg an die Oberfläche bahnen. Dann nickte sie und versuchte, ihre Schluchzer zu unterdrücken.
Mini maunzte und massierte der alten Frau den Bauch. Das hilflose, halberstickte Wimmern erinnerte mich an die sterbenden Tiere, die sich auf die Veranden und Treppen des DG schleppten.
»Es tut mir so leid, es tut mir so leid«, wiederholte ich ein ums andere Mal. Da ich einen Schluckauf bekommen hatte, richtete ich mich auf.
Enid erinnerte mich an meine kleinen Schützlinge, so kläglich und verschrumpelt lag sie in einem Bett, das viermal zu groß für sie zu sein schien. »Hat sie gerade meine Schwester umgebracht?« Ich umklammerte ihre freie Hand. Die Tränen strömten ihr weiter übers Gesicht und durchweichten das Kissen und ihr Haar.
»Ich glaube schon. Das war ziemlich viel Morphium«, flüsterte ich.
»Aber warum? Sie hat niemandem etwas getan. Wir sind doch völlig harmlos und ans Bett gefesselt.« Verwirrt und ungläubig nestelte sie an der Bettdecke und an dem Schlauch in ihrem Arm herum.
»Es tut mir so leid. Sie atmet noch ein wenig.«
Nicole sammelte die von Enid ausgespuckten Tabletten ein und stecke sie in die Tasche. Mini setzte sich erst auf meine Füße und sprang dann auf die von Enid.
»Können Sie …«, begann Enid und hielt dann inne.
»Was?« Ich beugte mich vor und strich ihr übers Haar.
»Können Sie mir helfen?« Enid versuchte, näher an ihre Schwester heranzurutschen. »Ins selbe Bett?«
Nicole und ich hoben Enid ins Bett zu ihrer Schwester. Sie umarmte sie, sprach leise mit ihr und
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