Meridian - Flüsternde Seelen
bis ans Fenster gekommen und dann umgekehrt. Ihr Herz begann wieder zu schlagen, und sie lebte noch vierzig Jahre lang. Allerdings wusste sie zu viel und hätte deshalb ihre Familie gefährden können. Deshalb hat ein Kriegerengel sie aufgesucht und ihre Vergangenheit verschleiert. Er hat ihre sämtlichen Verbindungen gekappt und sie in einem anderen Erdteil ein neues Leben anfangen lassen. Außerdem hat er sie gewarnt, dass sie sich an ihre gesamte Vergangenheit erinnern würde, sollte sie meine Tante je wiedersehen.«
»Glaubst du, Juliet hat ihre Mutter, mich und ihre ersten Lebensjahre vergessen, weil sie in Gefahr war?«
»Genau. Und ich vermute, dass du der Schlüssel zu ihrem Gedächtnis bist. Es ist der einzige Weg, es ihr mitzuteilen.«
»Was, wenn sie es bereits weiß und denkt, dass wir sie dieser Hölle überlassen haben, ohne ihr zu helfen? Ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen.«
»Keine Ahnung. Wir sind hergekommen, sobald wir davon gehört haben. Hoffentlich zählt das.«
»Dann fahren wir zu ihr. Sofort.« Tony stand auf und ging zur Tür. »Wir müssen sie suchen und es ihr sagen. Ich ertrage die Vorstellung nicht, dass sie alles falsch verstanden haben könnte.«
Ich blieb sitzen. »Ich weiß.« Wir mussten sorgfältig planen und zuerst herausfinden, wie man den Schleier lüftete. Ansonsten riskierten wir, alles nur noch schlimmer zu machen.
Tony lief im Zimmer auf und ab. »Ihre Mutter hat sie geliebt. Sie hat ihr Leben geopfert, um sie zu schützen.«
Ich nickte gerade, als Joi hereingestürmt kam. Im gleichen Moment gellten in der Stadt um uns herum die Alarmsirenen. »Beeilt euch, wir müssen alle in den Schutzkeller. Der Tornado ist nur noch gut sieben Kilometer entfernt und hält auf uns zu.«
Ich packte Buch und Steppdecke, Tens den Laptop und mich.
Als wir zum Schutzkeller des Ladens rannten, zerrte der Wind an uns, und abgebrochene Äste sausten vorbei. Ich hörte das Klirren der Scheiben geparkter Autos, die Opfer der Elemente wurden. Der Himmel war eine wirbelnde graue, grüne und schwarze Masse. Im Zickzackkurs umrundeten wir abgesplitterte Baumteile und umgekippte Gartenskulpturen.
Während wir die Treppe hinunter in den Keller hasteten, wurde mir flau im Magen.
Bitte mach, dass Juliet in Sicherheit ist.
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Kapitel 38
Juliet
B ist du sicher?«, fragte ich Nicole noch einmal.
»Ich habe ein Krachen und Poltern gehört«, raunte sie, als wir auf die geschlossene Bürotür zuschlichen.
»Was genau hat sie gesagt?« Die gute Nachricht war, dass nach Nicoles Überzeugung der Heimleiterin etwas zugestoßen war. Die schlechte lautete, dass laut Nicole Ms. Asura die Schuld an diesem Zwischenfall traf. »Wir sollen die Heimleiterin unter gar keinen Umständen stören. Ich weiß nicht, ich habe so ein komisches Gefühl. Sie hat mich den Satz sogar wiederholen lassen. Und dann schaute sie aus dem Fenster, sah dich und Kirian, hat geflucht, ist sofort raus und hat nach ihm gerufen.«
»Also sind sie weg, und anschließend hast du ein lautes Poltern gehört?«
»Nein, erst Geschrei, danach das Poltern und zu guter Letzt der Aufbruch.«
Gut, die Heimleiterin verschwand. Häufig. Noch öfter als früher. Sie verließ das Haus, um geheimnisvollen Treffen beizuwohnen oder ins Spielcasino zu gehen. Außerdem verschanzte sie sich gern in ihrem Büro. Allerdings gab sie immer einem von uns Bescheid und überreichte uns eine Liste von Erledigungen, deren Abarbeitung Wochen in Anspruch nehmen würde. Bis jetzt hatte noch keine von uns ihre tägliche Liste erhalten, und wir wussten von Ms. Asura, dass die Heimleiterin noch im Zimmer war.
»Jetzt ist es totenstill.«
Zentimeter um Zentimeter pirschten wir uns heran und hielten das Ohr an die Tür. Nach minutenlangem Schweigen richtete ich mich auf. »Ich glaube, am besten klopfe ich an.«
»Lass mich das machen.« Nicole wollte mich wegziehen. Wer anklopfte, riskierte eine Tracht Prügel.
»Ich tu’s.« Ich klopfte.
Nichts.
»Heimleiterin?« Ich klopfte lauter.
Stille. Ich drehte am Türknauf. Nicht abgeschlossen.
»Juliet …«, warnte Nicole.
Ich öffnete die Tür, hielt den Atem an und spähte hinein. »Heimleiterin?«, rief ich leise.
Als ich ihre Füße hinter dem Schreibtisch hervorschauen sah, stürmte ich ins Zimmer. Auf ihrem Schreibtisch herrschte ein heilloses Durcheinander, so als sei sie dagegengekippt und habe in ihrer Panik alles hinuntergefegt.
Ich kniete mich hin. »Nicole, ruf einen
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