Meridian - Flüsternde Seelen
werden muss.« Ich versuchte, es wie eine Frage klingen zu lassen, rührte mich aber nicht.
»Zweifelst du an meiner Anweisung?«
»Nein, Ma’am.«
»Also, wo ist sie?« Sie streckte die Hand aus.
Ich setzte mich langsam in Bewegung. Mein Magen krampfte sich zusammen. Nachdem ich die Reibe aus der Schublade geholt hatte, reichte ich sie ihr, ohne Blickkontakt aufzunehmen.
»Bodie, möchtest du der Erste sein?« Sie beugte sich über ihn.
Er schluckte und schwieg.
»Ach, nicht doch. Hier, Juliet.« Sie gab mir die Reibe. Ich drehte mich um und schickte mich an, sie zurück in die Schublade zu legen. »Du glaubst nicht etwa, dass das Thema hiermit erledigt wäre, oder? Nein, so dumm bist nicht einmal du, richtig?«
Ich wandte mich zu ihr um und warf einen Blick auf Bodie. Seine Augen waren vor Angst geweitet und wirkten zu groß für sein Gesicht.
»Soll er zehn oder zwanzig Klapse kriegen?«, fragte sie die Anwesenden.
Bodies Kopf zitterte. »Ich … ich … ich …« In seiner Panik machte er sich in die Hose.
»Du Ferkel. Und wer putzt die Sauerei jetzt weg?«, empörte sie sich. »Juliet, erweist du uns die Ehre?«
»Ich wische es gleich auf.«
»Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe, oder? Natürlich wirst du es aufwischen. Aber zuerst verhaust du Bodie und anschließend jedes andere Kind, dem du ›nur Nudeln‹ gegeben hast. Zehn Schläge auf den nackten Hintern sollten genügen, richtig? Nicole hilft dir, ihnen die Hosen auszuziehen.« Die Heimleiterin rückte sich einen Stuhl heran und ließ ihre beleibte Gestalt darauf sinken, als führten wir zu ihrer Unterhaltung ein Theaterstück auf.
Ich war schon oft geschlagen worden und hatte auch miterlebt, wie ältere Kinder die Kleinen mit Gürteln, Zweigen oder Kochlöffeln hatten verprügeln müssen. Doch mir hatte man bis jetzt noch nie ein Werkzeug und den Auftrag zum Schlagen gegeben.
»Du bist fast sechzehn, Juliet.«
Erschrocken, weil sie sich daran erinnerte, drehte ich mich um und sah sie an.
»Also bist du beinahe erwachsen. Es ist an der Zeit, dass ich dich auch so behandle. Und nun los.«
Mir drohten die Tränen in die Augen zu steigen, aber ich unterdrückte sie, wohl wissend, dass ich es damit nur noch schlimmer machen würde.
Nicole zog Bodie die nasse Hose herunter, drückte ihn an ihren Bauch, hielt sein Gesicht fest und streichelte ihm das Haar.
Ich starrte auf die Reibe in meiner Hand. Wenn ich es übernahm, würde es rasch vorbei sein. Außerdem konnte ich versuchen, so leicht wie möglich zuzuschlagen.
»Glaubst du, ich habe den ganzen Tag Zeit? Nun mach schon.«
Nicole blickte mich unverwandt an. Ich wusste, dass es ihre einzige Möglichkeit war, mir zu helfen: mir mit den Augen Kraft einzuflößen.
Ich hob die Reibe, aber ich konnte es nicht. Es war genug. Meine Grenze war überschritten. Rasch ließ ich das Küchenutensil wieder sinken, bevor der Gedanke an die Schmerzen, die ich für meinen Widerstand würde erdulden müssen, dafür sorgte, dass ich es mir anders überlegte. »Ich werde ihn nicht schlagen. Ich schlage überhaupt niemanden.«
Die Heimleiterin funkelte mich finster an. »Du wagst es, mir zu widersprechen?«
Ich nickte und stellte fest, dass Nicole noch mehr erstarrte. »Ich schlage keine Kinder.«
»Soll das heißen, dass keiner von euch eine Strafe verdient hat?«
»Nein, Ma’am. Mich können Sie ja schlagen, soviel Sie wollen.« Ich achtete darauf, ihr nicht in die Augen zu schauen und kleiner als meine knapp einsachtzig zu wirken.
»Du lässt es mich also selbst tun? Gib her.« Sie streckte die Hand aus und hievte sich mühsam hoch.
Ich reichte ihr die Reibe und baute mich schützend vor den anderen Kindern auf.
»Dann runter mit den Sachen und auf die Knie«, brüllte sie mich an. »Und ihr anderen seht zu. Keine Tränen, kein Geschniefe. Seht zu und merkt euch die Lektion.«
Nicole wollte vortreten und machte den Mund auf, aber ich ruckte mit dem Kopf und verzog das Gesicht, um sie aufzuhalten. Es wäre ihr nämlich durchaus zuzutrauen, dass sie sich auch verprügeln ließ und einen Teil der Schuld auf sich nahm, um die anderen zu schützen. Allerdings befürchtete ich, dass es hier nicht nur um geteiltes Leid ging, sondern um etwas Tieferliegendes und Persönlicheres. Nicole hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
So schnell wie möglich zog ich mich aus. Die Welt um mich herum wirkte an den Rändern verschwommen. Und während ich mich bemühte, nicht ohnmächtig zu
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