Meridian - Flüsternde Seelen
werden, fragte ich mich, ob es genügen würde, dass ich die Prügel einsteckte. Oder würde sie die anderen Kinder trotzdem schlagen?
Es war weniger der Aufprall der Reibe, der mir zu schaffen machte, als das vorangehende Pfeifen durch die Luft. Ich hatte mich mit dem Gesicht zum Küchenfenster hingekniet, damit ich den Bach und die Vögel im Auge hatte. Mini saß auf dem hohen Ast eines Baums vor dem Fenster, so dass ich sie vom Boden aus betrachten konnte, während die anderen sie nicht sahen. Sie blickte mir in die Augen.
Die Heimleiterin ließ die Stellen an meinem Rücken aus, die auch nur die geringsten Fettpolster aufwiesen, und zielte auf meine Rippen, meine Wirbel, die Schultern und die Schulterblätter. Bei dreißig hörte ich auf zu zählen.
Endlich lenkte das Läuten des Telefons sie von mir ab.
»Juliet, ich erwarte, dass diese Reibe gereinigt und desinfiziert wird, bevor du die Küche verlässt. Ihr anderen habt Arbeit zu erledigen. Verschwindet!« Die Heimleiterin marschierte durch den Küchenflur zu ihrem Büro und ihrer Wohnung.
Erst als wir das Grollen ihrer Stimme hörten, wagten wir, uns zu bewegen. Nicole und Bodie halfen mir auf die Füße.
Bodies Oberlippe war mit Rotz verkrustet, und seine Wangen wiesen Tränenspuren auf. »Entschuldige, entschuldige.« Selbst in meinem Schmerz und meiner Benommenheit war mir klar, dass ich einen Weg finden musste, die Situation zu retten. Ich musste den Kleinen beweisen, dass es mir gutging, dass ich es schon überleben würde und dass es für mich kein Weltuntergang war.
Vor Schmerzen krampften und zuckten meine Muskeln, doch ich unterdrückte es, bis ich wieder vollständig bekleidet war und mich zu den Kindern umdrehen konnte. Mein Rücken war warm und klebrig; der Kleiderstoff schmerzte auf der Haut. Die geprellten Knochen würde ich sicher noch viel länger spüren.
»Es ist alles in Ordnung. Euch trifft keine Schuld.«
»Du hättest uns hauen sollen«, war Selmas dünnes Stimmchen zu hören.
»Nein, hätte ich nicht.« Ich hatte zwar Schwierigkeiten beim Vorbeugen, achtete aber darauf, den Blickkontakt mit ihr zu halten. »Das wäre nicht in Ordnung gewesen. Es ist nie in Ordnung, andere Menschen zu schlagen. Deshalb war es richtig, dass ich es nicht getan habe. Die Heimleiterin hat sich falsch verhalten. Aber ich bin stark. Ich werde es überleben, und alles wird gut.«
»Entschuldige.« Bodie heftete sich an mein Bein wie eine Muschel. Der Druck seiner kleinen Arme auf meiner wunden Haut raubte mir fast den Atem, aber ich brachte es nicht über mich, ihn wegzuschieben.
»Juliet hat recht.« Nicole verteilte die Karamellbonbons, die sie immer in den Taschen zu haben schien. »Schlagen ist falsch, und eines Tages wird die Heimleiterin das auch erkennen. Und jetzt machen wir uns an die Arbeit und geben Juliet ein paar Minuten für sich. Komm, Bodie, wir ziehen dir eine frische Hose an.« Nicole hob die blutige Reibe auf und legte sie ins Waschbecken. »Ich kümmere mich darum«, sagte sie.
Erleichtert blickte ich ihr nach, als sie die Kinder hinausscheuchte. Ich klammerte mich so fest an die Anrichte, dass meine Fingerknöchel sich weiß verfärbten. Ich wusste, dass die Heimleiterin als Erstes die Reibe kontrollieren würde. Sicher würde es eine Weile dauern, meine Hautfetzen daraus zu entfernen. Doch als ich mich über das Spülbecken beugte und danach griff, war das Metall blank poliert. So, als wäre nie etwas geschehen.
Mini sprang geschmeidig vom Baum und lief in Richtung Bach.
Der restliche Abend verflog im Nu. Nicole brachte die Kinder ins Bett und deckte sie zu. Ich musste unbedingt baden, diesmal richtig, und mir von ihr den Rücken desinfizieren lassen, damit ich mir keine Entzündung einfing. Ein Arztbesuch kam natürlich nicht in Frage.
»Juliet, ich hab dich lieb.« Bodie traf mich beim Wäschewaschen an.
»Warum bist du noch wach?«
»Ich wollte mich noch mal entschuldigen.«
Nicole erschien hinter ihm in der Tür und schüttelte bedauernd den Kopf.
Ich legte die Handtücher und die Stapel abgetragener Kinderkleider weg und umarmte ihn. »Bodie, alles wird gut. Ich möchte nicht, dass du dich schlecht fühlst. Du hast nichts falsch gemacht. Überhaupt nichts.«
»Wirklich?«
Ich senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ja, wirklich. Die Heimleiterin ist fies und gemein und hätte mich sowieso geschlagen.«
»Aber ich habe die Nudeln gegessen …«
»Das haben wir alle. Und wir werden es wieder tun. Ich möchte,
Weitere Kostenlose Bücher