Meridian - Flüsternde Seelen
weil dein Yin da sei. Ist das ein Name?«
Mein Yin war im Haus? Wovon redete Rumi da?
[home]
Kapitel 26
Y in. Yin. Yin.
Ich sagte das Wort dauernd vor mich hin und versuchte hinter die Bedeutung von Rumis Bemerkung zu kommen. Was das Vokabular anging, war er mir haushoch überlegen, weshalb ich keine Ahnung hatte, ob ich ihn wörtlich nehmen oder den Sprung wagen und es bildhaft verstehen sollte. Tens war sofort in Alarmbereitschaft.
Ich stellte fest, dass er mich und Gus unauffällig tiefer in die Dunkelheit zog. Custos erschien am Ende der Straße und ließ sich mit dem Rücken zu uns nieder, als wollte sie Wache halten.
»Gus, kannst du dir unter Yin etwas vorstellen?«, fragte ich.
Er betrachtete uns und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vielleicht das chinesische Yin und Yang. Wenn ihr möchtet, gehe ich rein und bitte um Klarstellung. Möglicherweise weiß Faye ja mehr. Rumi liebt Wortspiele, aber ich glaube, diesmal ist es sein Ernst. Sein Gesichtsausdruck war blutrünstig.«
»Okay«, antwortete ich und verstummte. Yin und Yang?
Tens schlüpfte aus seiner Jacke, hängte sie sich über den Arm und zückte so rasch seine Waffe, dass die Bewegung kaum zu bemerken war.
»Soll ich bei euch bleiben?«, fragte Gus ängstlich und musterte Tens und mich im Dämmerlicht der Straßenlaternen und der weißen Lämpchen in den Regenrinnen rund um die Wohnung.
Tens legte ihm selbstsicher die Hand auf die Schulter. »Nein. Warum holst du Faye nicht etwas zu trinken?« Er zwinkerte Gus keck zu, und seine Stimme klang sanft und seidenweich. Sofort löste sich die Spannung, die uns drei umgab, in Luft auf und zerplatzte wie eine Seifenblase.
»Junger Mann, ich mache ihr nicht den Hof«, protestierte Gus.
»Vielleicht solltest du das aber tun.« Tens schob ihn höflich in Richtung Tür.
Gus hatte nicht viel Aufforderung nötig, um zur Musik – und vermutlich auch zu Faye – zurückzukehren. Ich war nicht sicher, ob er aus Verlegenheit den Rückzug antrat oder weil er sich Tens’ Worte zu Herzen genommen hatte.
»Was ist mein Yin?«, flüsterte ich.
»Gib mir eine Minute.« Tens lehnte sich an die Hauswand und schloss die Augen.
Ich achtete darauf, mich in der Dunkelheit der Seitengasse zu halten, und bohrte so lange mit der Zehe an einem Kieselstein herum, bis er sich aus einem Beet mit Osterglocken löste.
Yin? Yang? Yin? Yang?
»Du bist Yang. Jemand ist Yin. Wenn du der weiße Teil des Symbols bist …«
»Dann ist der andere der schwarze.« Ich schnappte nach Luft. »O mein Gott.« Ich spürte, wie meine Kniekehlen zu zittern anfingen. Aternocti. »Woher?«
»Woher er das weiß?« Tens drehte mich zu sich herum. Wir hatten Rumi einen Teil der Wahrheit über uns und unser Leben erzählt. Wir hatten ihn nicht belogen, weil er uns darum gebeten hatte. »Offenbar hat er weiter in den Aufzeichnungen gelesen.«
Für mich klang es sinnvoll, dass seine Vorfahren auch etwas über den Schlechten Tod geschrieben hatten, wenn in ihren Aufzeichnungen der Gute Tod vorkam.
»Lass uns reingehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird uns nichts passieren.«
»Wenn doch, sind eine Menge unschuldiger Menschen da drin.«
»Ja, aber der Aternoctus kennt uns oder zumindest Juliet. Wir sind im Nachteil.«
»Schon, aber wie hat Rumi ihn erkannt?« Oder sie? Perimo war der einzige Aternoctus, dem ich je begegnet war. Seine Anhänger waren männlich und weiblich, doch ich war nicht sicher, ob es sich bei ihnen tatsächlich um Aternocti gehandelt hatte. Mir waren sie eher wie die bemitleidenswerten Opfer einer Sekte erschienen.
»Äh, Leute?« Gus öffnete die Hintertür einen Spalt weit. Er bemerkte nicht, dass Tens sich mit einem Satz vor mich stellte und die Pistole zückte, als die Tür knarrte. »Der Meister meldet, dass die Luft rein ist. Ich wünschte, ihr würdet mich einweihen. Ihr vergesst, dass ich die Schlachtennachstellungen jahrelang geleitet habe. Ich bin ein recht guter Schauspieler.«
Tens versteckte die Pistole wieder und nahm meine Hand, während Gus weiter über seine Soldaten und anderen Mitwirkenden redete. Er zog mich hinter sich her. »Lass uns reingehen.«
Während Gus rasch im Atelier verschwand, durchquerten Tens und ich langsam die Wohnung und gesellten uns zu der Menschenmenge im vorderen Raum. Der Geruch nach Zigarettenrauch, Menschengedränge und Kaminfeuer lag in der Luft.
Tens gab meine Hand frei und baute sich vor mir auf, als wir das Atelier betraten. Vorsichtig bewegten wir uns rund
Weitere Kostenlose Bücher