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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Ich zog den Stöpsel der Badewanne, um mich mit frischem Wasser abzuduschen.
    Ich brauchte eine Ewigkeit, um das Shampoo aus meinen Haaren zu spülen. Plötzlich riss ich die Augen auf. Ich hatte eine Idee. Eine Schere musste her. Eine scharfe Schere.
    Schließlich konnte mir jetzt niemand mehr Vorschriften machen. Es würde keinen Weltuntergang geben, wenn ich es tat. Es ging niemanden etwas an. Also wischte ich den riesigen antiken Spiegel mit dem Handtuch ab, damit ich mich sehen konnte. Mein Haar reichte mir den ganzen Rücken hinunter bis zum Steißbein. Ich zog einen alten Rolli und Jeans an.
    Nachdem ich meinen Pyjama aufs Bett geworfen hatte, durchwühlte ich die Kommodenschubladen. Ich fand einen Schlüsselbund. Die meisten Türen auf den langen Fluren des Hauses waren abgeschlossen. Die Verlockung war zu groß, und meine Neugier vereinte sich mit der Mission, eine Schere aufzutreiben. Ich fühlte mich ein wenig wie eine Piratin auf Schatzsuche. Hinter einer dieser Türen verbarg sich gewiss das ersehnte Instrument. Deshalb schlenderte ich den Flur entlang und probierte die Schlüssel in den Schlössern aus, bis einer passte.
    Eine Tür öffnete sich knarzend. Muffig kalte Luft schlugmir entgegen, so dass ich erschauderte. Von der Decke hingen die Spinnweben wie Lametta, und die dicke Staubschicht kitzelte mir in der Nase. Ich betätigte den Lichtschalter. Eine Lampe verbreitete einen dämmrigen Schein, noch zusätzlich gedämpft von dem Staub auf ihrem Schirm.
    Ein Hauch Pfeifentabak stieg mir in die Nase. Schwere, männlich wirkende Sessel flankierten den Kamin, und am Fenster standen Staffeleien mit Leinwänden, die halbfertige Landschaften zeigten. Doch die Krönung des Raums war ein gewaltiger, kunstvoll verzierter Schreibtisch. Die Platte war leer, doch als ich die Schubladen aufzog, stieß ich auf eine wahre Ansammlung von Schätzen.
    Alte Fotos, die einen jungen Mann in Uniform darstellten. Eine Postkarte mit einem Krankenhaus darauf.
Werde noch mindestens sechs Monate hierbleiben müssen

schrecklich und anstrengend. In Liebe, M.
stand in krakeliger Schrift auf der Rückseite.
    Eine getrocknete Rose zerbröckelte, als ich sie berührte. Geschnitzte Türen mit Griffen aus Onyx und Elfenbein gaben Federkiele und Tintenfässer frei.
    Zu beiden Seiten des Schreibtischs türmten sich Bündel von Briefen. Die meisten waren vergilbt und brüchig vom Alter und wurden von Seidenschleifen zusammengehalten. Doch andere waren offenbar jüngeren Datums.
    Ich griff nach dem obersten Stapel. Die Umschläge waren noch weiß und glatt. Alle waren an Schwester M. Laine Fulbright adressiert.
    Nachdem ich einen Blick auf die Tür geworfen hatte, ließ ich mich in einem der Sessel nieder, ohne auf die Staubwolke zu achten, die daraus aufstieg. Ich schnürte das Band auf und entfaltete den ersten Brief.
Liebe Freundin,
unser kleiner Prophet wächst mit jedem Tag. Doch diese müden Knochen verlieren zunehmend an Kraft und können jederzeit nach Hause gerufen werden. Ich habe ihm Unterricht im Jagen und Sammeln von Pilzen und Kräutern erteilt. Für einen jungen Mann von elf Jahren schlägt er sich schon recht wacker. So Gott will, werde ich ihn in ein Flugzeug setzen, wenn ich weiß, wann der Zeitpunkt nah ist. Dann gebe ich Dir Bescheid, damit Du ihn abholen kannst. Ich möchte ihn niemandem außer Dir anvertrauen. Er wird sich zu einem wundervollen Mann entwickeln, auf den wir sehr stolz sein können. Seine Mutter hätte ihn vergöttert. Die Augen und die Zuverlässigkeit hat er von ihr geerbt. Deine Adresse hat er auswendig gelernt, so dass er Dich nötigenfalls auch allein findet. Die Zukunft ist unklar, was mich zur Verzweiflung treibt. Obwohl ich die Visionen nicht mehr so klar sehen kann wie früher, bin ich überzeugt, dass ihr beide einander braucht. Darauf baue ich.
Dein Freund Tyee
    Ich nahm den nächsten Brief. Zwischen den Schreiben lag ein Abstand von etwa drei Monaten. Als ich die anderen Stapel durchsah, stellte ich fest, dass es sich bei diesem, der sieben Jahre alt war, um den neuesten handelte. Ich las sie alle. Der Prophet, von dem Tyee schrieb, musste Tens sein.
Freundin,
seit einer Woche sehe ich Wesen – nicht in einer Vision, sondern in Form von Schritten, die mich verfolgen. Ich fürchte, sie könnten hinter Tens her sein. Sein Schicksal istmit dem Deiner Großnichte verknüpft, da bin ich ganz sicher. Ich habe einen Freund, der Polizist ist, gebeten, dieses Wochenende auf ihn aufzupassen,

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