Meridian
hergekommen?«
»Zu Fuß. Ihr hattet ja das Auto.«
Ich hatte den Verdacht, dass er mich absichtlich missverstand. »Ich meinte nicht heute, sondern überhaupt. Wie hast du Tante Merry gefunden?«
Tens stellte die Tasse ab und ließ sie auf der Tischplatte kreisen. Gerade hatte ich mich damit abgefunden, dass ich von ihm nichts erfahren würde, als er meinte: »Durch meinen Großvater Tyee.« Traurig seufzte er und sprach dann weiter. »Ich war zwölf, als er starb, und wurde in eine Pflegefamilie gesteckt. Ein paarmal bin ich ausgerissen, wurde aber immer wieder erwischt und zurückgebracht. Offenbar habe ich mich beim Verstecken nicht sehr geschickt angestellt.«
»Du warst ja noch ein Kind.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Mit vierzehn Jahren, einer aufgeplatzten Lippe und einigen gebrochenen Rippen habe ich endlich begriffen, wovor ich mich fürchten musste.«
»Du bist auf der Straße verprügelt worden?«
»Nein, die Bedrohung lauerte in unserem hübschen, gemütlichen Haus, nicht etwa auf der Straße. Niemand kümmerte sich darum. Kein Mensch fragte mich, warum ichimmer grün und blau geschlagen war. Man sah nur eine nette, weiße Mittelschichtfamilie, die schwierig zu vermittelnde Pflegekinder aufnahm.«
Ich schluckte. »Du bist wieder abgehauen, richtig?«
Tens nickte. »Ich habe ein bisschen Geld stibitzt und bin einfach losgelaufen.«
»Wo hast du damals gewohnt?«
»In Seattle.«
Mir blieb der Mund offen stehen. »Das ist zu Fuß ganz schön weit. Warum bist du hergekommen?«
»Weil Tyee es so gewollt hat. Er sagte, wenn ich je in Schwierigkeiten geraten sollte, müsste ich mich an Merry oder an Charles wenden. Mein Schicksal sei mit einem Kampf verknüpft, in dem es um die Menschheit und um das Licht ginge. Darum, sie zu schützen. Er wollte mir noch mehr erklären, aber die Zeit reichte nicht.«
»Also bist du bis hierher zu Fuß gegangen?«
»Ich bin per Anhalter gefahren, habe Brieftaschen geklaut und gejobbt, wenn ich etwas finden konnte. Zwei Jahre habe ich gebraucht. Meistens habe ich von dem gelebt, was die Natur so hergab. Tyee war ein guter Lehrmeister. Er hatte mir beigebracht, welche Pflanzen essbar waren, wie man mit feuchtem Holz Feuer macht und wie man nicht erfriert. In meinen Träumen hat er mit mir gesprochen und mir gesagt, was ich wissen musste, um nicht wieder erwischt zu werden.«
»Siehst du ihn immer noch?«
»Nein«, erwiderte Tens traurig. »Er verschwand an dem Tag, als ich den ersten Fuß auf die Veranda dieses Hauses setzte. Dann fing ich an, von anderen zu träumen …« Seine Stimme erstarb.
Ich wollte, dass er weitererzählte. »Vermisst du ihn? Vergiss es, das war eine dumme Frage. Ich vermisse meine Familie, und dabei sind sie nicht einmal tot.«
Eine Weile lauschten wir dem Knarzen des alten Hauses und dem Wind in den Bäumen.
»Hast du keine Angst, wenn du in meiner Nähe bist?«, erkundigte ich mich schließlich.
»Warum sollte ich?«
»Weil die Menschen um mich herum sterben.«
Eine offensichtliche Feststellung.
»Ich habe keine Angst. Obwohl du gerade einen schrecklichen Tee gemacht hast.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Und vor der Tante hast du auch keine Angst?«
»Die hat es faustdick hinter den Ohren. Vielleicht war sie in ihrer Jugend ja Berufsverbrecherin.« Tens stand auf, kam zu mir hinüber und blickte auf mich herab.
»Das war kein Scherz.« Ich verdrehte die Augen. Warum konnte er mich nicht ein einziges Mal ernst nehmen, anstatt mich wie die letzte Idiotin zu behandeln?
»Ich weiß.« Er zuckte mit den Achseln und musterte mich forschend, wie um sich zu vergewissern, dass ich der Wahrheit auch gewachsen war. »Ich habe dich gesehen, als ich noch klein war. Bevor mein Großvater starb. Und auch danach. Du hast ihn in meinen Träumen abgelöst.«
»Was?« Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet.
»Er wollte, dass ich mir überlege, wie mein Leben als Mann aussehen soll. Ständig hat er mich angetrieben, schneller erwachsen zu werden, als ich wollte. Er hat mich vorbereitet und auf die Probe gestellt, um sicherzugehen, dass ich für dich bereit bin.«
Dass er von mir träumte, ließ mich nicht mehr los. »Du hast mich in deinen Träumen gesehen?«
»Hmm. Du hast in deinem Garten ein Fort gebaut und darin gespielt. Du hattest Löwenzahnblüten in den Haaren und hast dir Geschichten ausgedacht.«
Meine Phantasiewelt war mir schon immer lieber gewesen als die echte, weil es darin keinen Tod gab.
»Und
Weitere Kostenlose Bücher