Meridian
ist das?«, fragte ich, während ich mich ihr gegenüber am Kamin in der Bibliothek niederließ. Wegen des zerbrochenen Fensters war es im Wohnzimmer zu kalt geworden. Liebevoll faltete sie eine kleine Steppdecke auseinander, als handle es sich um ein äußerst kostbares Geschenk.
Ein wehmütiges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Meine.«
Mir wurde flau im Magen. »Aber du hast doch gesagt … Dass die Decken alle … Du hast gesagt …«
»Ich habe gesagt, dass ich für jedes Leben, das durch mich hindurchgegangen ist, eine Steppdecke nähe.«
»Richtig.« Tränen stiegen brennend in meiner Kehle hoch. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten und aus Leibeskräften zu summen angefangen.
»Diese hier spiegelt alles wider, was ich gelernt und in mich aufgenommen habe. Sie hält unauslöschlich jedes Gesicht und jede Geschichte fest, die meine Seele berührt haben.«
»Ich liebe dich so. Warum muss ich …«, flüsterte ich, obwohl mir die Tränen die Kehle zuschnürten.
Warum muss ich diejenige sein?
»Ich weiß, mein Kind. Nur eine Fenestra kann einer anderen beim Übergang helfen. Wenn wir ohne diesen Beistand sterben, verändert die Fenestra-Energie ihre Form,und wir werden immer weniger. Deshalb ist unsere Anzahl in diesem Jahrtausend auch nur so gering. Aus diesem Grund versuchen die Aternocti, uns umzubringen oder uns zu einem der ihren zu machen. Für dich ist es fast Zeit, deinen Platz einzunehmen. Und ich werde bald erneut aufgehen. Ich möchte in meinem nächsten Leben Charles wiedersehen.«
Ich lief im Zimmer hin und her. »Aber ich bin noch nicht so weit. Ich kann doch unmöglich …«
»Du kannst es, und du wirst es tun.« Ihr herrischer Ton war offenbar eine Aufforderung an mich, mich zu beruhigen. »Du musst noch Weitere von uns finden, bevor sie sich auch noch der letzten bemächtigen. Wir sterben aus, Meridian. Und dann werden immer mehr Seelen in der Zwischenwelt gefangen sein. Die Aternocti werden weiter Lebensenergie in die ewige Dunkelheit hineinsaugen.«
»Wie soll ich …« Meine Stimme versagte, und ich bekam kaum noch Luft. Ich. Da draußen. Jägerin und Gejagte.
»Falls es den Aternocti gelingt, die Fenestrae auszurotten, haben sie Zugriff auf Millionen von unschuldigen Seelen. Denk nur an die Energie. An die Verheerung, zu der das führen wird. Du musst unsere Mitstreiterinnen zuerst aufspüren. Hilf uns. Unterweise uns. Bewahre die Traditionen und Geschichten. Benutze deine Instinkte und verlasse dich auf die Hilfe, die die Schöpfer dir schicken werden.«
»Aber wo sind diese anderen Fenestrae? Warum kommen sie nicht hierher zu dir?«
»Nicht alle haben wie du das Glück, eine Familie zu haben,die die alten Traditionen in Ehren hält. In diesem Jahrhundert bevorzugen die Menschen Dinge, die sie sehen und anfassen können. Sie glauben nicht mehr, und so gehen die Geschichten und die Magie verloren. Sie wissen nicht, wer sie sind.«
Schwere Schritte polterten auf der Veranda. »Ich bin es nur«, rief Tens, bevor er die Tür öffnete und ohne seinen Rucksack hereinkam. »Entschuldigt, aber es hat länger gedauert, als ich dachte.« Da er sich die Mühe sparte, sich die Stiefel aus zuziehen, hinterließ er schlammige Fußabdrücke und Schneespuren auf dem Flur.
Tante Merry scheuchte mich in die Küche. »Geh und gib ihm etwas von dem Kuchen. Ich bleibe gemütlich am Feuer sitzen.«
Im Flur roch es nach Pfeifentabak. »Rauchst du, Tens?«
»Noch nie. Warum?«
»Und die Tante?«
»Nicht in meiner Gegenwart.«
»Riechst du das?«
»Nein.«
»Jemand ist hier. Ich schwöre, dass hier jemand ständig Pfeife raucht.« Als es über uns schepperte, blickten wir beide zur Decke.
»Du wartest hier«, befahl Tens.
»Nein, ich komme mit.«
Niemals hätte ich ihn allein nach oben gehen lassen, da konnte er mich so böse anschauen, wie er wollte. Als wir den Treppenabsatz erreichten, schien alles wie immer zu sein. Doch die Tür zu dem Zimmer, wo ich die Schere gefunden hatte, stand weit offen.
Ich zeigte mit dem Finger darauf und schlich auf die Tür zu. Tens marschierte schnurstracks hinein. Zunächst sahen wir nichts. Dann winselte Custos und legte mir eine alte Pfeife vor die Füße.
Kapitel 26
»Jetzt haben wir die Lösung.« Ich wurde von Aufregung ergriffen.
»Was meinst du?«
»Charles ist hier. Er ist geblieben und wartet auf Merry.«
»Wovon redest du? Er ist tot.«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, er will mir mitteilen, dass er noch da ist.
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