Meridian
befahl ich der Wölfin, als sie sich an das Bein der Tante lehnte und ihr den Kopf auf den Schoß legte.
Tens kam herein. »Meridian, ich brauche deine Hilfe, um das Fenster mit Sperrholzbrettern zu vernageln. Mehr können wir erst nach den Feiertagen tun.«
Als ich hinausging, starrte Tante Merry ins Kaminfeuer. »Das heute war zu viel für sie«, raunte ich Tens zu.
»Kann sein.«
»Werden sie zurückkommen?«
»Die Situation eskaliert.«
»Wann haben die Anschläge angefangen?«
»Kurz nach meiner Ankunft hier. Die Kirche hatte zwar bereits den Betrieb aufgenommen, doch es geschah nichts Ungewöhnliches. Dann kam es zu einem Bestechungsskandal, und Perimo riss die Macht an sich. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Ein neuer Name. Ein neuer Vorstand. Gerüchte, deren Urheber niemand kannte, die die Leute jedoch glaubten. Und zu guter Letzt kamen die Unternehmensschließungen, und die Arbeitslosenzahlen schossen in die Höhe. Perimo gewann weitere Anhänger, indem er ihnen Arbeit gab und Lebensmittel verteilte. Wenn ich nur wüsste, wer die Schuldigen sind.«
»Und wann ging es mit den toten Tieren, aufgeschlitzten Reifen und Ähnlichem los?«
»Seit Oktober wird über deine Tante gemunkelt, und sie wurde immer seltener eingeladen. Auch die Anrufe wurden weniger – die freundlichen zumindest.«
»Also im Oktober?«
»Dann kamen die ersten Drohungen am Telefon. Jemand ließ ihr die Luft aus den Reifen, als sie beim Einkaufen war. Der Supermarkt führte plötzlich ihre Lieblingsmarken nicht mehr. Der Strom wurde uns abgestellt.«
»Ich könnte mich ja irren, aber vielleicht stecken die Aternocti und die Kirche unter einer Decke.«
»Doch was führen sie im Schilde?« Tens setzte sich und schlug auf den Tisch.
»Was hat sich in letzter Zeit verändert?«, fragte ich.
»Das muss es sein – es liegt an dir! Deine Tante hat letztens gesagt, sie könne die Gegenwart eines Aternoctus spüren, richtig?«
»Was heißt, dass das auch umgekehrt gilt.« Ich schnappte nach Luft. »Und sie ist einhundertundsechs Jahre alt.«
»Sie wussten, dass jemand aus der Familie kommen und ihr beim Übergang helfen würde, und zwar eine junge Fenestra. Dich aufzuspüren, zu beobachten und abzuwarten war nicht weiter schwer.«
»Sie haben schon in Portland versucht, mich umzubringen, bevor ich überhaupt hier war.«
»Genau.« Tens nickte.
»Und warum wollen sie Tante Merry vergraulen?«
»Als die Kirche es nicht geschafft hat, sie anzuwerben …«
» … haben sie ihr das soziale Netzwerk und ihre Freunde weggenommen.«
»Ich wette, nicht einmal die Gemeindemitglieder wissen, was wirklich dahintersteckt.«
»Meinst du, Perimo ist im Bilde?«, fragte ich.
»Bestimmt. Der Mann ist kein Christ, denn in seinen Predigten spricht er nur von Hass, Zorn und Blutvergießen.«
»Und was ist mit den Babys? Den Toten? Der Falle? Celia?« Allmählich wurde mir klar, wie das alles zusammenpasste.
»Seelen für die Aternocti. Aber wie sieht die Gegenleistung aus?«
Ich klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Irgendeinen Vorteil müssen sie ja davon haben.« Vor lauter angestrengtem Nachdenken bekam ich Kopfschmerzen. »Doch ich kann mir nicht vorstellen, was das sein soll.«
Tens stand auf. »Schau, ob du in dem Tagebuch etwas dazu findest. Ich wünschte, sie hätte es mich schon vor Jahren lesen lassen.«
»Sie hat dir nicht erlaubt, es zu lesen?«
»Das dürfen ausschließlich Fenestrae.« Er schlug die letzten Nägel ins Holz. »Wir hängen Steppdecken darüber, um die Kälte abzuhalten. Das muss genügen.«
Wir schlossen die Eingangstür ab und verschoben die Beseitigung der Graffiti auf morgen. Tante Merry trafen wir in der Küche an. »Es ist Zeit. Ich habe den Rest zusammengepackt.« Sie nickte Tens zu.
Noch nie hatte ich einen so bedrückten Gesichtsausdruck bei ihm gesehen. »Bist du sicher?«
Sie nickte schicksalsergeben.
Mit ernster Miene zog er seine schwersten Wanderstiefel und den Mantel an.
»Wo willst du hin?«, erkundigte ich mich.
»Weg.« Sein barscher Tonfall ließ mich zusammenzucken.
Offenbar merkte er mir an, wie sehr er mich gekränkt hatte. »Entschuldige«, fügte er ein wenig versöhnlicher hinzu. »Ich muss noch etwas erledigen. Zum Abendessen bin ich zurück. Euch kann nichts passieren. Schau, ob du etwas über das Thema herauskriegst, über das wir gesprochen haben.« Er schob sich an mir vorbei zur Veranda und blieb kurz stehen, um mir einen Kuss auf den Scheitel zu hauchen.
»Ich
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