Meridian
hoffentlich wiedersehen. Es ist Zeit.«
Ich nickte, umarmte sie und wollte sie nicht loslassen.
»Pass gut auf deinen jungen Galan auf, einverstanden? Es ist noch nicht vorbei. Wir werden immer bei dir sein. Du hast die Kraft des Lichts auf deiner Seite, hörst du? Ich wünschte, ich könnte dir erklären, wie man die Aternocti bekämpft. Vertraue auf die Liebe, das Licht und das Leben. Ich bin stolz auf dich. Und nun vollende das Werk.« Während sie aus dem Fenster schwebte, tastete ich hinter mirnach etwas, woran ich mich festhalten konnte, wenn ich es schloss. Als ich die Augen aufschlug, umklammerte ich Tens’ Hand. Meine Knöchel waren weiß, und meine Nägel hatten seinen Handrücken blutig gekratzt.
»Was ist passiert?«, fragte Tens, als mir die Knie nachgaben. Sanft bugsierte er mich in einen Sessel.
Ich drehte mich zu Tante Merry um. Ihr Mund öffnete und schloss sich nicht mehr, sondern war reglos. »Ist sie tot?«, fragte ich mit zitternder Stimme.
Tens fühlte ihr am Hals den Puls. »Tot.«
Ein Teil von mir hatte befürchtet, dass es mir nicht gelingen könnte, der Versuchung zu widerstehen und in dieser Welt zu bleiben.
Tens zog mich an sich. »Du hast es geschafft. Ich wusste es.«
»Das habe ich nur dir zu verdanken.« Ich beobachtete, wie das Licht der Nachttischlampe seltsam flackernd die winzigen, bonbonfarbenen Stoffstücke beschien. »Darauf hat sie gewartet, richtig? Sie wollte nicht, dass etwas unerledigt blieb. Sie hat nur darauf gewartet, dass ich mich entscheide. Und ich habe die Liebe und das Leben gewählt. Tens, ich …«
Als sich im Hof ein Geheul erhob, zuckten wir beide zusammen. Im nächsten Moment heulte es wieder, diesmal ein Stück weiter entfernt. Schließlich schien ein ganzes Rudel in den Chor einzustimmen.
»Das ist Custos, oder?« Das Motorengeräusch herannahender Autos übertönte das Heulen. »Welchen Tag haben wir?«
Tens war auf einmal sehr beschäftigt und antwortete nicht.
»Silvester, richtig?«
»Meridian, hol deine Sachen. Wir müssen fort.«
»Fort? Wir können doch nicht fort. Wo sollen wir denn hin?«
22. Dezember 1835
Gestern konnte ich einen Blick auf das Gesicht einer lieben Freundin und Fenestra erhaschen. Inzwischen dient sie der anderen Seite. Neben ihr ging ihr Wächter, ihr Geliebter, der ebenfalls zu den Mächten der Dunkelheit übergelaufen ist. Die Aternocti erstarken an unseren Schwächen, & ich weiß nicht, wie ich sie bekämpfen soll. Vor nichts habe ich solche Angst wie davor, einem von ihnen zu begegnen.
Jocelyn Wynn
Kapitel 31
»Hörst du das?« Tens rüttelte mich an den Schultern. »Hörst du?«
»Es sind Leute, die schreien.« Ich blickte zur Decke. Es war nicht das Lampenlicht, das da flackerte, sondern es waren Flammen.
»Wir müssen weg. Sofort!« Tens strich mit der Hand über die Stirn der Tante. Eine letzte Abschiedsgeste.
»Wir können sie doch nicht hier liegen lassen. Es sind nur Leute von der Kirche. Sie werden uns nichts tun. Sie wollen uns bloß Angst einjagen. Die werden mich nicht kleinkriegen.«
»Nein, Meridian. Deine Tante hat mir das Versprechen abgenommen. Sie wusste, dass dieses Zimmer ihre letzte Ruhestätte werden würde. Überleg mal. Sie hat nie über ihre Be erdigung gesprochen, richtig?«
»Sicher deshalb, weil sie mich nicht damit belasten wollte.«
»Nein, weil ihr klar war, dass sie dieses Zimmer nie wieder verlassen würde. Doch wir müssen verschwinden.«
Ein brausender Windstoß brachte die Fenster zum Klappern. »Das ist Rauch.« Ich schnupperte. »Verbrennen sie wieder einen Pfeil im Vorgarten?«
Tens packte mich am Arm. »Vertraust du mir?«
»Aber …«
»Vertraust du mir?«, wiederholte er.
»Ja.« Ich griff nach meiner Tasche und berührte ein letztes Mal Tante Merrys noch warme Hand. »Wo wollen wir hin?«
»Folge mir«, befahl Tens.
»Warte, ich muss noch …«
»Wir haben keine Zeit mehr.«
Ich trödelte herum, obwohl auf der Veranda unter uns schon die Flammen emporzüngelten. Ein ohrenbetäubendes Scheppern und lautstarker Jubel ließen mir den Qualm noch beißender erscheinen. »Ich brauche ihren Korb. Schließlich muss ich jetzt auch Steppdecken nähen. Und das Tagebuch.« Ich besaß keine andere greifbare Verbindung zu den Fenestrae, zu der einzigen Fenestra, die ich je kennengelernt hatte.
»Alles gerettet. Den Korb habe ich schon weggebracht. Das Tagebuch ist in deinem Rucksack.«
»Was?«
»Sie hat es vorausgeahnt, und ich habe
Weitere Kostenlose Bücher