Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Häuser bewohnt waren. Tagsüber lärmten noch die Baumaschinen auf den umliegenden Grundstücken, aber nachts hörte man gar nichts.
«Jetzt habe ich doch tatsächlich Schwierigkeiten mit dem Einschlafen», sagte sie und lachte. «Ich bin es nicht gewohnt, dass es so still ist.»
Mit der Stille hatte es nichts zu tun, dass sie nachts lange wach lag. Sie wartete darauf, dass ihr Mann zurückkam. Er müsse den ersten Schritt tun, meinte sie, sich bei ihr entschuldigen und auch bei ihrem Vater. Aber Gernot dachte nicht daran, rief nicht mal an, um zu fragen, wie es ihr ging.
Als an einem Abend Ende September die Wehen einsetzten, war sie immer noch allein und musste sich ein Taxi rufen, weil sie nicht mehr fahren konnte. Es ging sehr schnell, schon kurz nach Mitternacht war ihr Sohn da. Am frühen Morgen rief sie ihren Schwiegervater an und Agnes, die dafür sorgte, dass Merkel informiert wurde.
Als er aus dem Einkaufszentrum kam, um den Schäferhund abzuliefern, richtete man ihm aus, er sei Großvater geworden. Es war ein komisches Gefühl für ihn. Großvater, wo er doch bisher nicht mal ein richtiger Vater gewesen war. Er radelte nach Hause, legte sich für ein paar Stunden hin. Schlafen konnte er nicht, hatte plötzlich den Kopf voller Erinnerungen.
Seine Frau in der Klinik, erschöpft, aber glücklich, etwas auf die Welt gebracht zu haben, das ein Teil von ihnen beiden war. «Hast du sie schon gesehen, Hein? Sie ist wunderhübsch.» Nun, über Geschmack ließ sich streiten.
Heike schickte ihn hinaus, um sie anzuschauen, seine Tochter. Dann stand er vor einer Glasscheibe und betrachtete sieben winzige Bettchen mit winzigen Geschöpfen darin. Für ihn sahen sie alle gleich aus. Eine Säuglingsschwester kam, fragte durch die Scheibe nach seinem Namen und hob einen der Winzlinge aus einem der Bettchen. Und genau in dem Moment, als die Schwester sie vor die Scheibe hielt, gähnte sie. Es sah urkomisch aus, er musste lachen. Und als er zurück an ihr Bett kam, meinte Heike, er lache vor Glück. Damals war er das auch gewesen, rundum glücklich.
Am frühen Nachmittag radelte er zur Klinik. Es war alles anders als damals. Die Winzlinge wurden nicht mehr hinter Glas gehalten, das Bettchen stand direkt neben ihrem. Merkel warf einen kurzen Blick hinein, sah nur einen dunklen Haarschopf und eine rosige Faust neben einer rosigen Wange. «Strammer Bursche», sagte er anerkennend. «Wie heißt er denn?» Darüber hatten sie noch gar nicht gesprochen.
«Patrick», sagte sie.
Ein guter Name, fand er, hatte etwas Kraftvolles,
Energisches. Patrick Brandes, doch, das klang gut. Merkel hatte schon zu der Zeit, als er noch eine Dienstmarke trug, festgestellt, dass Namen irgendwie den Charakter prägten. Er wickelte die Blumen aus, die er ihr mitgebracht hatte. Sie freute sich so darüber. Dabei stand bereits die ganze Fensterbank voll, und ein riesiger Strauß auf dem Tisch neben ihrem Bett. Rosen! Was auch sonst? Von ihrem Mann, nahm er an, der nun vermutlich auch rundum glücklich war und seinen Sohn wahrscheinlich schon im Arm gehalten hatte.
In dem Punkt irrte er sich. Die Rosen waren tatsächlich von Gernot. Und vielleicht war er bereit gewesen für eine Versöhnung. Nur war er zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen, in seiner Mittagspause. Sie hatte gerade Besuch, Ohloff, der in der Kneipe ihre Adresse aufgeschnappt hatte, am Morgen aus unerfindlichen Gründen am Rosenweg aufgetaucht und von einer Nachbarin zur Klinik geschickt worden war.
So hatte Gernot sich nicht lange aufgehalten, den gut aussehenden blonden Hünen an ihrem Bett nur mit undurchdringlicher Miene gemustert, auch einen flüchtigen Blick auf seinen Sohn geworfen. Dass er in der Situation kein Wort der Entschuldigung über die Lippen gebracht hatte, war verständlich. Er hatte sich nur erkundigt, ob die Straße inzwischen asphaltiert sei. Und als sie den Kopf schüttelte, hatte er sich mit einem wichtigen Termin für diesen Abend entschuldigt und für die nächsten Abende gleich mit, weil er annahm, ihr Besuch käme noch häufiger. Und die traute Zweisamkeit wolle er nicht stören. Wie sie das wieder hinbiegen sollte, wusste sie noch nicht.
Als Merkel sich nach zehn Minuten schon wieder verabschieden wollte, weil er dachte, dass ihr Mann jeden Augenblick zur Tür hereinkommen könnte, legte sie ihm eine Hand auf den Arm. «Bleib noch ein bisschen, Papa. Du musst doch nicht zum Dienst, ist gerade erst vier Uhr.»
«Ich dachte, du kriegst
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