Merkels Tochter. Sonderausgabe.
vielleicht noch mehr Besuch», sagte er.
Sie schüttelte den Kopf.
«Dein Mann auch nicht?», fragte er.
Sie lächelte. «Er hat einen Termin, den er nicht mehr absagen konnte. Und alle anderen waren schon hier. Ich dachte, die halbe Stadt will mir gratulieren. Da muss einer mit dem Megaphon durchgefahren sein. Sogar Dieter war hier. Frag mich nicht, wie er so schnell davon erfahren hat.»
Im ersten Augenblick wusste Merkel gar nicht, wen sie meinte, dann fiel ihm ein, dass Ohloff mit Vornamen Dieter hieß. Kein Mensch sprach ihn so an, weil er sich immer nur als Ohloff vorstellte, als ob er keinen Vornamen hätte. Den verlor man tatsächlich als Erstes hinter Gittern.
Irene hatte nachgehakt, als sie vor ein paar Monaten zum Du übergegangen waren. «Soll ich dich jetzt weiter Ohloff nennen? Dann bin ich für dich Brandes. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.» Ohloff hatte herumgedruckst, war ganz verlegen geworden. Dann hatte er ihr seinen Vornamen verraten, und seitdem nannte sie ihn Dieter.
Sie kramte in ihrem Nachttisch, holte ein gelb-schwarz geringeltes Etwas heraus, bei dem Merkel unwillkürlich an eine Wespe dachte. «Sieh mal, was er mir mitgebracht hat. Ist der nicht niedlich?» Sie breitete einen Strampelanzug auf dem Laken aus. «Das wird noch eine Weile dauern, ehe Patrick da reingewachsen ist. Aber ich fand es nett. Für Dieter ist das eine besondere Leistung, Babywäsche zu kaufen.»
Noch während sie sprach, begann ihr Sohn zu quengeln. Sie nahm ihn aus dem Bettchen, knöpfte ihr Nachthemd auf, legte ihn sich an die Brust. Merkel fand, dass er nun wirklich gehen sollte.
Doch sie lachte leise. «Jetzt stell dich nicht so an, Papa. Das siehst du bestimmt nicht zum ersten Mal. Und wenn doch, wird es höchste Zeit, dass du dich an den Anblick gewöhnst.»
Dann erzählte sie, dass sie schon in drei Tagen entlassen würde, wegen ihrer Sozialfälle. «Offiziell arbeite ich zwar gerade nicht, aber ich konnte nicht zu allen sagen, so, Leute, das war’s erst mal, ich ziehe mich vorübergehend ins Privatleben zurück. Es sind ein paar dabei, wenn die sich an ein Gesicht gewöhnt haben, können die sich nicht umstellen. Denen habe ich gesagt, sie können jederzeit zu mir kommen.»
Sie schaute ihn an, schien zu überlegen. «Und wie machen wir beide das jetzt? Ich glaube kaum, dass Gernot die Zeit hat, jeden Montagabend den Babysitter zu spielen. Er ist zurzeit beruflich sehr stark eingespannt. Und für Patrick ist eine verräucherte Kneipe auch nicht die richtige Umgebung.»
Den Blick hielt sie auf Merkels Gesicht gerichtet, als warte sie nur darauf, dass sich dort etwas regte. Nach ein paar Sekunden sprach sie langsam weiter: «Zu Dieter habe ich schon gesagt, er kann ruhig mal vorbeikommen, wenn ihm danach ist, mit jemandem zu reden. Er soll vorher anrufen, ich sage ihm dann, ob ich Zeit habe. Was ist mit dir? MUSS nicht regelmäßig sein, Papa, obwohl ich das nicht schlecht fände. Aber ich kann mich da ganz nach dir richten.»
Wieder entstand eine kleine Pause, und als Merkel ihr nicht antwortete, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, erkundigte sie sich: «Was hältst du davon, wenn wir an einem Tag in der Woche zusammen frühstücken? Der Dienstag wäre dafür wie geschaffen, findest du nicht? Da schläfst du nicht bis Mittag, kommst morgens zu mir, und wir sind ganz ungestört.»
«Klingt nicht schlecht», sagte Merkel.
10. Kapitel
So begann es mit den Dienstagen. Meist bog Merkel kurz nach neun in die Gartenstadt ein. Es sah dort noch ziemlich wüst aus, überwiegend Rohbauten, Baumaschinen, eine Menge Dreck. Nur vereinzelt sah man schon Fenster mit Gardinen. Am Rosenweg waren inzwischen fünf Häuser bewohnt, zwei am Ende der Straße und drei am Anfang, alle an einer Straßenseite. Dazwischen lagen vier Grundstücke, auf denen die Arbeit mehr oder weniger weit gediehen war. Auf der gegenüberliegenden Seite war noch kein Spatenstich getan. Irene gehörte das mittlere der ersten drei. Es war mit Abstand das schönste, jedenfalls für sein Empfinden, aber über Geschmack ließ sich ja streiten.
Im ersten, einem Bungalow mit Flachdach, lebten Ulla Fendrich und ihr Mann, beide waren Ende dreißig und kinderlos. Er war als Handelsvertreter die ganze Woche unterwegs. Sie – laut Irene – gesundheitlich nicht auf der Höhe. Beim ersten gemeinsamen Kaffee kurz nach dem Einzug hatte sie Irene erzählt, sie brauche nichts so nötig wie ihre Ruhe. Im Winter vertrieb sie sich die Zeit auf der
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