Merkels Tochter. Sonderausgabe.
dir alles anschauen, Papa. Ich hol dich gerne ab, sag mir nur, wann es dir passt. Vielleicht wieder am Dienstag?»
Merkel wollte nicht den Eindruck erwecken, als habe er auf so ein Angebot gewartet. «Ach, das muss nicht sein», sagte er. «Den Weg kenn ich jetzt, ich fahre gerne mit dem Rad, wenn das Wetter danach ist.»
Zwei Wochen ließ er verstreichen, ehe er ihrer Einladung nachkam. Dann machte er sich nicht dienstags, sondern an einem Sonntagnachmittag auf den Weg, dachte gar nicht darüber nach, dass sie so kurz vor der Geburt auch die Woche über zu Hause war – und sonntags nicht allein.
Als er ankam, war ihr Mann nicht da, und sie freute sich, ihn zu sehen, setzte sofort einen Kaffee auf, holte zwei große Stücke Butterstreusel aus dem Gefrierschrank und schob sie zum Auftauen in die Mikrowelle. Sie war bestens vorbereitet.
«Das schmeckt gleich wie frisch gebacken», sagte sie.
Dann führte sie ihn herum. Es war wirklich alles sehr nett geworden, ein schönes, großes Badezimmer. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, wann er zuletzt in einer Wanne gelegen hatte. Dabei hatte er das früher sehr genossen, im warmen Wasser liegen. Auf Anhieb erinnerte er sich auch nicht an den großen, zotteligen grauen Teddy, der im fertig eingerichteten Kinderzimmer auf einer Liege saß.
«Kennst du den nicht mehr?», fragte sie. «Du hast ihn mal bei einer Tombola gewonnen, aber da sah er anders aus, hellblau. Mit den Jahren hat er tüchtig Staub eingefangen. Ich hab ihn mal gewaschen und ihm damit den Pelz restlos ruiniert.»
Da fiel es ihm wieder ein, wie seine Frau gelacht hatte über das Ungetüm von Bär, der damals größer gewesen war als Irene. Dass sie den noch hatte, nach all den Jahren, rührte ihn.
Sie gingen wieder hinunter in die Küche, der Kaffee war durchgelaufen, der Butterstreusel wie frisch gebacken. Sie nahm Geschirr aus einem Schrank, er half ihr, alles ins Wohnzimmer zu tragen. Doch kaum hatten sie es sich in zwei Sesseln gemütlich gemacht, kam ihr Mann nach Hause und stutzte schon in der Diele, als sei er gegen eine Wand gerannt. Er kam langsam bis zur Wohnzimmertür und meinte: «Sieh einer an, lieber Besuch. Ich störe doch hoffentlich nicht?»
Natürlich störte er, Merkel jedenfalls störte er gewaltig, der eitle Fatzke. Er gab sich nicht mal ein Quäntchen Mühe, freundlich zu sein oder wenigstens höflich, ließ ihn deutlich spüren, dass er hier unerwünscht war. Er holte sich auch ein Kaffeegedeck aus der Küche, pflanzte sich auf die Couch in einer Weise, dass keiner mehr Platz neben ihm gefunden hätte.
Dann hielt er Merkel einen Vortrag, dass er als Bankkaufmann sehr gut rechnen und sich gefühlsmäßig nicht so leicht umstellen könne. Lange Rede, kurzer Sinn, für ihn blieb der verstorbene Friedel, Gott habe ihn selig, Irenes Vater. Was Irene nun habe, verdanke sie ausschließlich Friedel.
Und wenn Merkel sich einbilde, er könne sich nach all den Jahren, in denen seine Tochter für ihn nicht existiert hatte, ein Stück vom Kuchen abschneiden, sei er schief gewickelt. Zu verschenken hätte Irene nichts mehr, und als seine Frau müsse auch sie vor allem Wert auf seinen Ruf legen. Sollte sich in den Kreisen, in denen sie verkehrten, herumsprechen, dass Irenes Erzeuger einen Mann erschossen und fünfzehn Jahre gesessen hatte, wer hätte da noch Vertrauen zu ihm?
«Ich hab nicht vor, unsere Verwandtschaft an die große Glocke zu hängen», sagte Merkel. «Und ich bin auch nicht hier, um mir ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Den Butterstreusel kann ich bezahlen, den Kaffee auch.»
Für ihn stand in dem Moment fest, dass er zum letzten Mal einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses gesetzt hatte. Es mochte noch so nett und gemütlich eingerichtet sein und ein schönes, großes Badezimmer haben, er musste nicht regelmäßig darin verkehren. Ihm reichte es, seine Tochter hin und wieder in einer Kneipe zu treffen. Und wenn sie nach der Geburt ihres Kindes dafür keine Zeit mehr hatte, auch gut. Sollte sie glücklich werden mit dem arroganten Schnösel und ihrem Baby. Merkel hatte es achtzehn Jahre lang ohne sie ausgehalten und war ganz gut zurechtgekommen. Er würde auch weiterhin alleine klarkommen, meinte er.
Als Irene ihn zur Tür brachte, entschuldigte sie sich für ihren Mann. «Gernot meint das nicht so, Papa. Es war in den letzten Monaten ein bisschen viel für ihn. Das Haus hier und das Kind, er meinte, damit hätten wir noch warten sollen. Aber wir werden alle nicht
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