Merkels Tochter. Sonderausgabe.
die Polizei zu einer wichtigen, genau genommen zur einzigen Zeugin, nicht nur für die fragliche Zeit. Sie war entschieden besser informiert über Irenes Leben, ihre Ehe und ihren Umgang, als Merkel oder Agnes Seifert. Dabei hatte sie selbst nicht viel Kontakt mit ihr gehabt. Ab und zu ein kleiner Plausch über den Gartenzaun oder mal ein Tässchen Kaffee am Nachmittag, doch dafür hatte Irene in den letzten Wochen keine Zeit mehr gehabt.
Ulla Fendrich mochte Irene und verstand nicht, warum Merkels Tochter sich das Leben so schwer machte. Um keinen Preis der Welt hätte sie mit Irene tauschen mögen, auch nicht für ein Hirn, in dem nichts wuchs, was da nicht wachsen sollte. Schon dieser kleine Brüllaffe von einem Baby, der neuerdings den lieben langen Tag am Hals seiner Mutter hing. Und dazu ein Mann, der am späten Nachmittag mal auf einen Sprung hereinschneite, höchstens eine halbe Stunde blieb und die Zeit nutzte, um zu nörgeln.
Mal musste Gernot Brandes zu einer Besprechung und wollte ein bestimmtes Hemd anziehen, das natürlich nicht gebügelt in seinem Schrank hing. Mal hatte Irene gerade nicht die Zeit, rasch über seine Schuhe zu putzen, während er kurz unter die Dusche sprang. Die Straße war immer noch nicht asphaltiert, und Gernot Brandes führte sich häufig auf, als verhindere Irene das, um ihn zu schikanieren. Mal gab es Vorhaltungen, weil er noch mit einem wichtigen Kunden verabredet war und Irene es nicht geschafft hatte, ihm ein neues Deo zu besorgen. «Dreimal habe ich dich jetzt schon darum gebeten, aber du setzt dich lieber mit diesem asozialen Pack hin. Es interessiert dich überhaupt nicht mehr, wie ich herumlaufe.»
Im Grunde kein übler Mensch, dieser Gernot Brandes, höflich und gebildet, immer ein freundliches Lächeln und einen kleinen Gruß auf den Lippen. Vielleicht ein bisschen karrieregeil. Aber worauf hätte er auch sonst noch geil sein sollen, wenn Irene vor lauter Baby und asozialem Pack abends wie ein Stein ins Bett fiel? Und was das Pack anging, da stimmte Ulla Fendrich mit ihm überein. Nichts gegen einen netten Bekanntenkreis, bei Irene jedoch verkehrten Leute, denen Ulla Fendrich lieber nicht allein begegnete.
Zu Anfang hatte sie das Treiben nebenan noch mit neidvollen Blicken beobachtet. Sie hatte ihren Beruf aufgeben müssen und die wenigen Freunde durch ihre Krankheit verloren. Wer hörte schon gerne bei jedem Besuch etwas von Schmerzen und Todesangst? Ihr Mann war die ganze Woche unterwegs und sie allein. Doch dann hatte sie sich Irenes Besucher etwas genauer angeschaut und begriffen, wer sie waren.
Einige kamen wohl geradewegs vom Sozialamt, um die Hand aufzuhalten. Und egal, wer vor der Tür stand, es durfte auch ein Staubsaugervertreter sein, einer, der für ein Kinderhilfswerk sammelte, oder einer, der gerade aus der Haft entlassen worden war und nun darauf hoffte, seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Zeitschriftenabonnements bestreiten zu können, Irene bat jeden herein, bot Kaffee an, nahm sich im größten Chaos die Zeit für eine Unterhaltung.
Wenn die Gespräche im Wohnzimmer geführt wurden und die Terrassentür offen stand, hörte Ulla Fendrich oft mit. Wie viel sie verstand, hing vom Lärm der Baumaschinen auf den umliegenden Grundstücken ab. Wenn es einigermaßen still war, entging ihr nichts, gewiss kein Streit im Nachbarhaus. Im Laufe der Monate war sie so mit sämtlichen pikanten Details aus dem Privatleben ihrer Nachbarn vertraut geworden, auch mit den Problemen der Leute, die regelmäßig kamen. Mit Namen konnte sie der Polizei nicht dienen. Ulla Fendrich hatte die drei Besucher, die häufig zu Irene kamen, mit Spitznamen belegt.
Frau Bodewig war für sie – wie auch für Merkel – die Schnapsdrossel, wie sollte man eine meist torkelnde und lallende Frau auch anders nennen? Dieter Ohloff bezeichnete sie als Thomas-Gottschalk-Verschnitt. Und Helmut Ziriak, der dreimal die Woche erschien, montags, mittwochs und freitags, nannte sie den Irokesen, weil er einen dieser steil frisierten Hahnenkämme mitten auf dem Schädel trug. Rund herum wuchsen nur Stoppeln, anscheinend rasierte er sich die Kopfhaut von Zeit zu Zeit.
Und wahrscheinlich – meinte Ulla Fendrich –, rasiere er sich das Gehirn regelmäßig mit, er könne nicht bis drei zählen. Lesen konnte er auch nicht. Was er sich seit Beginn des Frühjahrs in Irenes Wohnzimmer schon alles zusammengestottert hatte, na ja, vielleicht standen ihm deshalb die Haare zu Berge. Ein düsterer
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