Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Mann spielen! Das hatte er nie getan. Nach einem langen, forschenden Blick in sein Gesicht meinte sie: «Okay, du willst das nicht hören, wechseln wir das Thema.»
Aber zwei Sekunden später sagte sie: «Nein, wir wechseln es nicht. Da sind ein paar Dinge, die wollte ich dir schon lange sagen. Vielleicht hilft es dir, wenn du begreifst, was für ein Mensch Mutti war und dass es nicht nur dir allein so ergangen ist mit ihr.»
Dann erzählte sie ihm, was Kurt schon vor zwanzig Jahren behauptet hatte. Heike sei ein leichtfertiger Mensch gewesen. Eine Frau, die nur für ihre Bedürfnisse lebte und keine Sekunde lang darüber nachdachte, was sie anderen antat. Die sich grundsätzlich die falschen Männer aussuchte. Männer, die nach außen hin Stärke demonstrierten und dabei so verletzlich waren, so weich und unsicher. Männer, die sie anbeteten, das brauchte sie. Und dabei übersah sie völlig, dass diese Männer auch etwas brauchten, die gleiche ununterbrochene Bestätigung der eigenen Person von außen, weil sie sich selbst nicht bestätigen konnten, kein Selbstwertgefühl hatten, sich für Schwächlinge hielten. Wenn so ein Mann betrogen wurde, war das ein Todesurteil. Der eine ballerte los und ließ sich anschließend lebendig begraben. Der andere ging lieber mit dem Auto auf die lange Reise, aber nicht allein.
Nachdem das gesagt war, betrachtete sie ihn, als wolle sie von seinem Gesicht ablesen, ob sie weitersprechen durfte. Das tat sie nach ein paar Sekunden, obwohl seine Miene ihr das strikt untersagte. «Mutti hat auch Friedel betrogen, nach Strich und Faden. Sie waren noch gar nicht lange verheiratet, da fing sie damit an. „Shoppen“ nannte sie das, war jeden Nachmittag auf Achse. Wenn ihr ein Mann gefiel, musste sie ausprobieren, ob sie ihn haben konnte. Manchmal habe ich gedacht, sie ist nymphoman. Aber vielleicht hatte sie nur Angst, alt und unattraktiv zu werden, nicht mehr begehrenswert zu sein. Sie war schön, und das war ihr wichtig, nur das, Papa. Und es reichte ihr nicht, das immer nur von einem Mann zu hören. Sie hätte Friedel nicht verlassen, warum auch? Sie hat ihn ja geliebt auf ihre Art. Ich bin sicher, sie hat auch dich geliebt. Sie hatte nur eine andere Vorstellung von Treue. Friedel wusste das. Er hat lange Zeit beide Augen zugedrückt und so getan, als sei alles in Ordnung. Bis er es eben nicht mehr ertragen konnte.»
Sie ließ ihn nicht aus den Augen, wippte mechanisch ihren Sohn auf den Knien. «Es war kein Unfall, Papa. Es war das Gleiche wie damals bei dir. Verzweiflung, verletzter Stolz. Friedel hat mir einen Brief geschrieben, den bekam ich am Tag nachdem es passiert war. Er konnte nicht mehr, nicht mehr mit ihr leben und nicht ohne sie, also ist er mit ihr gestorben. Mit hundertachtzig gegen einen Brückenpfeiler, mit der Beifahrerseite angesteuert. Er war ziemlich sicher, dass sie das nicht überleben konnte, und er hatte zusätzlich etwas eingenommen. Festgestellt wurde nichts, sie haben nur auf Alkohol getestet, nehme ich an.»
Sie sprach so nüchtern und vernünftig, wirkte so erwachsen dabei, als habe sie nie gelitten, nie etwas vermisst, als könne sie noch eine Menge mehr erklären. Aber Merkel wollte nichts mehr hören, kein Wort mehr. Und gerade, als er ihr das sagen wollte, stand sie vom Stuhl auf, setzte den Jungen auf den Fußboden und lächelte ihn an.
«Denk mal darüber nach. Es lohnt sich nicht, für so eine Frau das eigene Leben wegzuwerfen. Das lohnt sich für keinen Menschen. Auch wenn man ihn noch so sehr liebt. Du hättest ihr einen Tritt verpassen sollen, Papa. Das ist mein Standpunkt. Wenn mich einer tritt, trete ich zurück.»
«Du hast überhaupt keine Ahnung, wovon du sprichst», fuhr Merkel sie an. «Du weißt nicht, wie das ist, wenn …»
Sie stand noch neben dem Stuhl, lächelte sogar noch, als sie ihn unterbrach. «Woher willst du das wissen, Papa? Was macht dich so sicher, dass ich nicht genau weiß, wovon ich spreche?»
Darauf wusste er keine Antwort. Sie nickte flüchtig. «Reden wir ein andermal weiter. Für heute reicht’s mir.»
12. Kapitel
Nach dem letzten gemeinsamen Frühstück und dem ersten, das mit einem Missklang endete, brachte sie den Jungen nach oben und legte ihn mitsamt der Plüscheule in sein Bettchen. Er schlief nicht immer sofort ein, spielte meist noch eine Weile, hörte sich das Lied an. «Kommt ein Vogel geflogen.» Das konnte er schon alleine, dazu musste er ja nur kräftig an der Schnur ziehen, und kräftig war er. Wenn
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