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Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Titel: Merkels Tochter. Sonderausgabe. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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vermutlich keine Angst vor dem Irokesen. Und man konnte das Kind ja nicht so weiterbrüllen lassen. «Schauen Sie doch mal, was da los ist», verlangte sie. «Sie sind doch Irenes Vater, nicht wahr?»
    Als Merkel kurz nickte, winkte sie ihn heran: «Dann kommen Sie, Sie können bei mir durchgehen.»
Merkel wollte nirgendwo durchgehen. Er hatte damals auch nicht heimfahren wollen. Es war eben so ein Zwang gewesen – damals, und jetzt war es so ähnlich. Nur mal nachschauen, was los war. Aber wenn die Nachbarin ihn nicht so hypnotisch fixiert hätte, wäre er vielleicht auf sein Rad gestiegen und ein andermal wiedergekommen. Seine Hose war nun wirklich nicht so wichtig, die konnte er auch nächsten Dienstag noch mitnehmen. Und reden könnten sie dann auch besser. Was er ihr sagen wollte, war nicht in fünf Minuten zu schaffen.
Die ganze Nacht hatte er über das nachgedacht, was sie beim Frühstück gesagt hatte. Mit dem Hund seine Runden durchs Einkaufszentrum gedreht und dabei ihre Stimme gehört. «Sie hätte Friedel nicht verlassen.» Dann hätte Heike ihn wahrscheinlich auch nicht verlassen, sich nur ab und zu einen Kerl ins Bett geholt. Wenn er es geschafft hätte, beide Augen zuzudrücken. Aber genau das war sein Problem, er konnte das nicht. Deshalb konnte er auch nicht auf sein Rad steigen.
Es war wirklich nicht Irenes Art, das Kind länger als eine halbe Stunde allein im Haus zu lassen. Überhaupt ließ sie niemanden allein. Sie war zuverlässig, immer da, wenn jemand sie brauchte. Seit zwei Jahren war sie für ihn da. Wusste genau, wie einem Mann zumute war, der niemanden hatte, eigentlich auch niemanden brauchte, sich nur manchmal von allen verlassen fühlte.
Er setzte sich in Bewegung, ohne es zu registrieren, durchquerte Ulla Fendrichs Diele und ihr Wohnzimmer, lief den Sonnenschirm auf ihrer Terrasse um, schritt wie von Fäden gezogen über den Rasen, stieg über den niedrigen Zaun und auf Irenes Terrasse. Ulla Fendrich folgte ihm, blieb jedoch draußen stehen, während er zögernd das Wohnzimmer seiner Tochter betrat.
Es sah alles aus wie immer. Er war nicht oft in dem Zimmer gewesen, sie blieben mit dem Frühstück ja stets in der Küche. Aber meist stand die Tür auf, und er konnte von der Diele aus hineinschauen. Jetzt konnte er in die Diele sehen, die geschlossene Küchentür und ein Stück von der Treppe. Das nervtötende Gebrüll da oben raubte ihm fast den Verstand.
Der Gedanke zu rufen: Hallo, ist jemand da? oder sonst etwas, kam ihm erst gar nicht. Er sah es schon vom Wohnzimmer aus. Die Dielenwände und der Treppenaufgang waren weiß gestrichen, die Küchentür aus hellem Holz. Und da waren rote Streifen, als hätte jemand willkürlich mit einem breiten Pinsel über die Tür und die Wände gestrichen – oder etwas Blutiges aus der Küche nach oben geschafft.
Wie er hinauf in das Obergeschoss kam, wusste Merkel später nicht mehr. Es war wie ein Luftanhalten und Untertauchen, auf der Treppe war es so. Und oben auf dem Flur tauchte er dann wieder auf. Die Tür gegenüber der Treppe war die zum Zimmer des Kindes. Sie war offen. Der Kleine stand in seinem Bett, hielt sich mit beiden Händen am Querlauf des Gitters, schwankte hin und her und brüllte mit zurückgelegtem Kopf und fest zusammengekniffenen Augen seine Wut oder sein Elend hinaus.
«Sei still», zischte Merkel, ohne dass es ihm bewusst wurde. Die drei anderen Türen waren geschlossen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nach der ersten Klinke zu fassen. Wenigstens öffnen musste er eine der Türen, weil sich auch darauf ein breiter, roter Streifen befand.
Dann sah er sie liegen.
Und er hatte es gewusst, die ganze Zeit, von dem Moment an, als sie ihm auf dem Friedhof diese lächerliche Visitenkarte in die Finger drückte. Ganz genau hatte er gewusst, dass er sich nicht auf sie einlassen durfte, dass er sich nur wieder ins eigene Fleisch schnitt, wenn er sie an sich heranließ. Weil sie auch nicht besser war als ihre Mutter und seine Mutter, weil sie ihn ebenso betrügen und verlassen würde.
Wie sie da auf dem Bett lag! Wie eine große, etwas zu knochig geratene Puppe, die man von Kopf bis Fuß durch einen roten Farbtopf gezogen hatte. Die Beine züchtig zusammengelegt und mit einem wadenlangen, weit geschnittenen Rock bedeckt, der vermutlich die Streifen auf den beiden Türen und an den Wänden hinterlassen hatte. Die Hände über der Brust gefaltet, irgendein Kraut zwischen den Fingern, Nelken. Ebenso blutig wie alles an ihr, die

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