Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Fenster stand in Kippstellung offen. Eine Viertelstunde lang träumte auch Ulla Fendrich von dem lieben Vogel, der einen Gruß und einen KUSS mitnehmen sollte.
Wie Merkel wusste sie, dass Irene ihren Sohn von zehn bis zwölf im Bett parkte, ob er schlief oder nicht, Hauptsache, er war ruhig. Meist legte Irene ihn um zwei Uhr für den Mittagsschlaf wieder hin, dann war er auch müde, schlief bis um drei. Und manchmal nutzte Irene die Zeit, um rasch eine Besorgung zu machen. «Ein gutes Gefühl habe ich nicht, wenn ich ihn allein lasse», hatte sie erst in der vergangenen Woche zu Ulla Fendrich gesagt. «Aber in seinem Bett ist er sicher, rausfallen kann er nicht. Und allein bin ich entschieden schneller.»
Um Viertel nach zehn ging Ulla Fendrich ins Haus, um ein Schmerzmittel einzunehmen. Es war nicht gut auf nüchternen Magen, das wusste sie, aber so half es schneller. Sie nahm eine Illustrierte aus der Vorwoche mit hinaus, blätterte sie durch. Die meisten Artikel kannte sie bereits, und die sie noch nicht kannte, interessierten sie nicht. Insgeheim hoffte sie auf eine kleine Plauderei, wenn Irene nach draußen kam, um die Hemden von der Leine zu nehmen und die zweite Ladung aufzuhängen. Die Schmerzen ließen nach. Als es wenig später an der Haustür klingelte, waren sie bereits erträglich.
Ulla Fendrich erhob sich seufzend, warf im Vorbeigehen einen Blick auf die Wanduhr im Wohnzimmer, es war genau halb elf. Noch zu früh für den Postboten, sonst erwartete sie niemanden. Sie öffnete mit vorgelegtem Sicherheitsriegel. Draußen stand eine junge Frau, ein zierliches Persönchen, Anfang bis Mitte zwanzig, modische Kurzhaar-Frisur, hübsches, aber aggressiv wirkendes Gesicht, adrette Kleidung, heller Blazer und dunkle Hose, eigentlich zu warm für den Tag. Das umfasste Ulla Fendrich mit einem Blick. Ebenso die große, prall gefüllte Umhängetasche, die locker von der Schulter der Frau baumelte.
Die Tasche war geschlossen, Ulla Fendrich vermutete, dass sie Zeitschriften enthielt. Einen Packen davon trug die Frau auf dem Arm, schob ihr durch den Türspalt ein Magazin entgegen. Ulla Fendrich griff zu und winkte gleichzeitig ab, noch bevor die Frau ihr Anliegen erklären konnte. Da gab es auch nicht viel zu erklären, der Zeitungspacken auf dem Arm sprach für sich.
Im Frühjahr waren die Drückerkolonnen wie Heuschreckenschwärme in die Gartenstadt eingefallen, jeden zweiten Tag ein anderer, manche mit, manche ohne Zeitschriften. Aber jeder erzählte eine rührende oder dramatische Geschichten und wurde frech, wenn man sich weigerte, einen Abo-Zettel zu unterschreiben. Ulla Fendrich kaufte, bestellte oder abonnierte prinzipiell nichts an der Haustür. Sie ließ die Frau gar nicht erst zu Wort kommen, erklärte knapp:
«Vielen Dank, ich kaufe meine Zeitungen immer im Laden.»
Sie rechnete damit, dass ihr das Magazin wieder aus den Fingern gerissen wurde oder es zu zähen Verhandlungen käme, und wunderte sich, als die Frau nur lässig mit den Achseln zuckte. «Da kann man nichts machen, dann entschuldigen Sie bitte die Störung.»
«Ich entschuldige so gut wie alles», sagte Ulla Fendrich und machte die Haustür wieder zu. Als sie zurück auf die Terrasse kam, hörte sie von der Straßenseite her die Stimme der jungen Frau. «… gezwungen, mir damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich war ja noch nicht fertig mit dem Studium, als mein Mann verunglückte. In dem Alter kann man von einer Rente nur träumen. Aber wenn ich diesen Sommer noch etwas auf die Seite lege, kann ich vielleicht zum Wintersemester zurück an die Uni.»
Eine der üblichen Geschichten, die allesamt frei erfunden waren, darauf hätte Ulla Fendrich geschworen. Sie hörte Irenes Stimme. «Kommen Sie doch einen Moment rein, dann schaue ich mir mal an, was Sie zu bieten haben. Ich habe gerade Kaffee gemacht, vielleicht möchten Sie …»
Der Rest wurde abgeschnitten, als Irene die Tür schloss. Danach hörte Ulla Fendrich nichts mehr. Sie schlug das Magazin auf. Ein Glückstreffer, eine ganz aktuelle Ausgabe. Für ein paar Minuten vertiefte sie sich in einen Bericht über Naturheilkunde. Ihre Kopfschmerzen waren fast völlig verschwunden, und die beiden Tabletten hatten sie müde gemacht. Die fast schlaflose Nacht forderte ebenfalls ihren Tribut. Sie glitt in einen kurzen, aber sehr festen Schlaf.
Ein paar Minuten nach elf wurde sie von einem aufheulenden Motor und quietschenden Bremsen aufgeschreckt. Das Geräusch fuhr ihr wie ein Stich ins
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