Merkels Tochter. Sonderausgabe.
sprechen? Vater und Großvater war er. Er konnte doch das Kind nicht da oben lassen.
«Was ist denn mit dem Kleinen?», stammelte Ulla Fendrich. «Warum haben Sie ihn nicht mit heruntergebracht? Man kann ihn doch nicht so weiterschreien lassen. War sonst niemand da?»
Merkel beachtete sie nicht, registrierte nicht einmal, dass sie fluchtartig das Haus verließ. Er wandte sich der Küche zu, es sah aus, als käme das Blut von dort. Viel mehr Möglichkeiten gab es auch nicht. Noch eine geschlossene Tür, noch eine Klinke, die gedrückt werden musste. Er drückte mit einem Finger das äußere Ende nieder und die Tür mit dem Ellbogen nach innen. Hinein ging er keinen Schritt, nahm das Bild von der Tür her in sich auf.
Es sah aus wie in einem Schlachthaus. Keine Flecken oder Streifen auf dem Boden, auch keine Spritzer. Blutlachen waren es, verschmiert, verwischt, als hätte jemand versucht, das Gröbste aufzuwischen. Gleich bei der Tür war es am deutlichsten. Da schimmerte stellenweise der Fußboden durch. Und überall in dem Blut die Abdrücke von Füßen, großen Füßen, es sah aus, als wäre jemand auf Socken durch ihr Blut gelaufen.
An der Wand neben der Tür befanden sich Spuren von blutigen Händen. Er konnte sie sehen, als er sich um den Türrahmen herumbeugte, jedoch nicht erkennen, ob große oder kleine Hände die Tapete beschmiert hatten. Aber er sah ihre Hände noch vor sich, wie sie gestern Morgen die Toaststückchen zum Mund des Kindes geführt hatten. Schmale Hände, nicht zu groß, nicht zu klein, genau richtig für eine Frau.
Es war eine große Küche, und nur hinten beim Fenster war der Fußboden sauber. Doch abgesehen von all dem Blut machte die Küche einen ordentlichen Eindruck. Auf dem Tisch stand eine Nähmaschine, daneben der offene Nähkorb, sauber, wie es schien. Seine Hose dagegen, es war eine hellgraue Hose, hing über einer Stuhllehne an der schmalen Seite des Tisches, mit Blut beschmiert.
Neben dem Herd standen ein elektrischer Flaschenwärmer und ein benutzter Teller mit einem Rest Gemüsebrei. Auf der Abtropffläche der Spüle stand ein offenes, leeres Schraubglas, von dem sich das bunt bedruckte Papier fast völlig gelöst hatte. Die Reste im Glas sahen genauso aus wie die auf dem Teller, es hatte wohl zuvor den Gemüsebrei enthalten. Sekundenlang grübelte er, wo der Löffel sein könnte, mit dem sie den Kleinen noch gefüttert haben musste. Vielleicht lag er im Spülbecken, das konnte er von der Tür aus nicht einsehen.
Sonst stand oder lag nichts herum wie an jedem Dienstagmorgen, wenn sich das Kinderspielzeug auf dem Fußboden verteilte. Bunte Rasseln und Stofftiere, die Plastikwürfel, die man ineinander stecken konnte. Und sein Weihnachtsgeschenk, die Plüscheule mit der Spieluhr im Bauch, die der Kleine nun schon alleine aufziehen konnte.
Wenn er nur endlich aufgehört hätte zu brüllen. Merkel hatte das Gefühl, er sollte noch einmal nach oben gehen und ihn aus dem Bett nehmen, vielleicht auch einen Blick hinter die beiden anderen Türen werfen. Gut möglich, dass sich dahinter noch jemand aufhielt, der sich nun fühlte wie in der Falle und vielleicht das Kind als Geisel nahm, um aus dem Haus zu kommen.
Aber er konnte nicht gehen, betrachtete seine Hose, die so lieblos über die Stuhllehne geworfen schien. Auf genau dem Stuhl hatte er gestern noch gesessen, mit dem Rücken zur Tür. Und sie auf dem anderen, vor dem jetzt die Nähmaschine stand, mit dem Rücken zur Küchenzeile. Es gab nur die beiden Stühle, einer vor der schmalen und einer vor der breiten Seite des Tisches, und eine Eckbank.
Auf dem Tisch sah er im Geist noch einmal die Frühstücksutensilien, das weiße Geschirr mit dem dunkelblauen Rand, die Butterdose, die beiden Teller mit Wurst und Käse und der Korb mit dem frischen Brot. Und in ihrer Griffnähe auf einem der Schränke die Kaffeemaschine, über die sie sich zu Weihnachten so gefreut hatte. Dabei war es ein billiges Ding gewesen. Dreimal hatte sie gestern nach hinten gefasst und ihre Tasse nachgefüllt.
Sie hatte viel zu viel Kaffee getrunken. Und den ganzen Tag aus einer Tasse. Nur war nirgendwo eine Tasse zu sehen. Die Maschine mit einem Rest Kaffee in der Kanne war auch nicht eingeschaltet, wie er es kannte. Es war fast so, als sei alles nur ein schöner Traum gewesen, Frühstück mit der Tochter. Nichts erinnerte mehr daran.
Wenn der Bengel da oben nur endlich sein Geplärre eingestellt hätte. Es war schon erstaunlich, wie viel Luft so
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